Durch das Fenster weht der Wind, das Glas im Rahmen fehlt. Auf dem Sims staubige Schuhe, die sich auflösen, zerbröseln. Dicke Spinnweben in den Ecken. Ein Regal an der Wand, darin Blechgeschirr, an dem der Rost nagt. Bierflaschen stecken in Eimern, wie eben leer getrunken und kurz weggeräumt.
Die direkt an der tschechischen Grenze gelegene Wüstung Bügellohe im Oberpfälzer Wald ist ein trauriger Ort mit trauriger Geschichte. Man spürt sie, sieht sie förmlich, die Schwermut, die über diesen Ruinen wabert.
Bügellohe befindet sich Luftlinie ca. 15 km südlich des Grenzübergangs Waidhaus. Vom Wanderparkplatz Vierziger, etwa 1 km hinter den letzten Häusern von Stadlern an der Straße nach Schönsee, führt ein 2,9 km langer Wanderweg zu den Ruinen.
Die Ruinen sind die Überreste einer Streusiedlung, die zwischen 1946 und 1969 bewohnt war. Für bis zu 75 Menschen wurde Bügellohe vorübergehend eine neue Heimat. Aufgebaut wurde die Siedlung von Sudetendeutschen aus den nahen böhmischen Dörfern Wenzelsdorf und Rappauf. Sie hatten sich vorsorglich auf den bayerischen Bergsattel zurückgezogen, um der Vertreibung aus der Tschechoslowakei zu entgehen. In Bügellohe wollten sie auf bessere Zeiten und die Rückkehr in die alte Heimat warten.
Zeiten, die nie kamen. Heute dämmern die Ruinen von Bügellohe als stimmungsvoll-bedrückender Lost Place vor sich hin.
Inhaltsverzeichnis
Das „Museum“ im Fleischhackerhaus
Der Anfang: Von Wenzelsdorf nach Bügellohe
Die Sautreibergasse
Die Blätter der Bäume rauschen im Wind. Durch den schattenkühlen Wald wandern wir hinauf nach Bügellohe. Die Ruinen der Siedlung liegen auf rund 850 Metern Höhe. Der Waldweg führt teils direkt an der Grenze entlang. Rechts des Wegs befindet sich Deutschland, links Tschechien. Alle paar Meter steht ein Grenzpfosten.
Aus dem geschotterten Forstweg wird bald ein Pfad, der sich wie ein Hohlweg tief ins Gelände getreten hat. „Sautreibergasse“ lesen wir auf einem Schild. Dieser Weg war die einzige Verbindung zwischen Bügellohe und der Außenwelt. Und er war der Schulweg der Bügelloher Kinder. Die Schule lag vier Kilometer entfernt im Dorf Stadlern. Im Winter, wenn der Schnee bis zu den Knien reichte, spannten sich die Kinder Skier unter die Füße.
Das „Museum“ im Fleischhackerhaus
Ankunft in Bügellohe. Bei einer Lichtung entdecken wir ein Haus. Es ist, wie sich herausstellen wird, das einzige Gebäude, das noch ein Dach hat. Das Fleischhackerhaus. Benannt wurde es nach seinem Besitzer Johann Lang, dem Fleischhacker der Siedlung.
Das Mauerwerk liegt blank, die Balken sind morsch. Das Fensterglas ist geborsten, eine Tür hängt halb in den Angeln.
In der Stube noch Reste von Tapeten an der Wand. Im Regal Blecheimer, Kochgeschirr, Flaschen, Keramik. Unfassbar, dass heute noch so viele Alltagsdinge der Bewohner vor Ort vorzufinden sind. Über 50 Jahre, nachdem die letzten Menschen Bügellohe verlassen haben. Manche Gegenstände wirken fast wie hindrapiert.
In einem Raum des Fleischhackerhauses ist eine kleine, aber spannende Ausstellung über die Geschichte des seltsamen Orts untergebracht. Ohne sie wäre es schwierig gewesen, diesen Beitrag zu schreiben. Zu sehen sind auch Fotografien der ehemaligen Bewohner vor deren Häusern, Fotos vom „Schottenhaml“ und vom „Kaiserseppl“ beispielsweise.
Der Anfang: Von Wenzelsdorf nach Bügellohe
Ressentiments gegen die deutsche Bevölkerung Böhmens hatte es in der Tschechoslowakei schon vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Einer, der wollte, dass die Ressentiments in Hass umschlugen, war Edvard Beneš (Staatspräsident von 1935–1938 und 1946–1948).
Schon bald nach dem Krieg verbreiteten sich Gerüchte von anstehenden Vertreibungen der Sudetendeutschen, wie die deutschen Bewohner der Tschechoslowakei genannt wurden. Um der Vertreibung zu entgehen, beschlossen elf sudetendeutsche Familien aus Wenzelsdorf und Rappauf, vorübergehend auf das 850 Meter hoch gelegene Waldareal Bügellohe zu ziehen, das sich bereits in Bayern befand. Hier, in Spuckweite zu ihren Heimatdörfern, besaßen sie Grundstücke. Und hier wollten sie warten, bis sich die Zeiten wieder beruhigen.
Im tiefsten Winter des Jahres 1945/46 begannen die Familien Notunterkünfte im Wald zu errichten. Bretter und Balken schleppten sie aus ihren Heimatdörfern hinauf nach Bügellohe. Allzu weit zu tragen aber hatten sie nicht. Bügellohe und Wenzelsdorf trennten gerade 500 Meter und eine damals noch ungesicherte Grenze. Die Männer zimmerten Hütten für die Familien. Eine provisorische Siedlung entstand. Man dachte nicht daran, sich hier fest niederzulassen.
Der erste Winter war ein Winter voller Kälte und Entbehrungen, auf den noch viele weitere folgen sollten. Unvorstellbar, welche Qualen die Bügelloher durchmachten.
Die Ernüchterung: Bügellohe in den frühen 1950er-Jahren
Im Verlauf des Jahres 1946 wurden die verbliebenen deutschen Bewohner von Wenzelsdorf und Rappauf vertrieben und die Grenzen peu à peu befestigt. Ab 1950 machte man die Dörfer dem Erdboden gleich. In der Sperrzone so nahe am Feind durften fortan nur noch die Grenzschützer patrouillieren.
Die Hoffnung der Bügelloher, irgendwann ins alte Heim zu ziehen, war damit dahin. Doch ein Fünkchen Hoffnung blieb: Vielleicht könnte man irgendwann in ein anderes Dorf in Böhmen ziehen? Schließlich waren ganze Landstriche entvölkert.
Um besser durch die Jahreszeiten zu kommen, begannen die Bügelloher, Häuser mit Unterbauten aus Feldsteinen zu errichten. Sämtliche Baumaterialien mussten nun aus Stadlern oder Schönsee über die Sautreibergasse herbeigekarrt und getragen werden. Im Winter benutzte man Schlitten.
Man versuchte sich einzurichten, so gut es ging. Versuchte zu roden und die Felder ertragreicher zu bewirtschaften. Die Bügelloher hielten nun Kühe, Schweine und Ziegen. Doch was sie auch taten, die Erträge aus der Landwirtschaft in dieser Höhe waren dürftig. Kleine zusätzliche Einkommen brachten das Besenbinden und der Verkauf von Klöppelware.
Das Leben war entbehrungsreich. Wasser musste von einer Quelle geholt werden. Doch kleine Freuden und Fortschritte gab es auch, und irgendwann gar ein Wirtshaus, das Gasthaus Florl samt Kegelbahn.
Wo es wohl stand? Wir erkunden die Umgebung des Fleischhackerhauses. Entdecken Ruinen auf einer Lichtung, vereinnahmt von Brennnesseln und Dornengestrüpp:
Und entdecken Ruinen im Wald, halb im weichen Nadelteppich versunken:
Das Ende: Bügellohe ab 1957
Das Leben im kalten Wald war für viele auf Dauer nicht auszuhalten. Von den bayerischen Behörden kam keine Unterstützung. Beantragte Mittel für Elektrizität, fließendes Wasser und eine Straßenverbindung in die Siedlung wurden abgelehnt. Diese bürokratische Ohrfeige ließ die Bügelloher an ihrer Zukunft zweifeln. Viele wanderten ab. Die meisten Bügelloher verließen die Siedlung in den Jahren 1957 und 1958 und zogen in nahe Dörfer und Kleinstädte.
Andere blieben. Wie der Landwirt Josef Licha. Er sollte „der letzte Bügelloher“ werden. Ein Foto zeigt ihn mit seiner Lebensgefährtin vor einem riesigen Holzstapel. Wie lange es die Dame bei ihm aushielt, wissen wir nicht. Jedenfalls, so schrieb der Heimatbote, hatte Licha im Herbst 1967 nur noch tierische Gesellschaft: eine halbwilde Katze. Im Artikel ist außerdem zu lesen:
„Am Abend zündet Einsiedler Licha seine Petroleumlampe an. Er fühlt sich nicht von der Welt abgeschnitten. Ein Transistorgerät unterrichtet ihn darüber, was draußen vorgeht. Es hat ihn auch während der ganzen Fußball-Weltmeisterschaft 1966 über die sportlichen Ereignisse auf dem laufenden gehalten.“
Licha verließ Bügellohe am 27. November 1969.
Mehr Lost Places in Deutschland: Dagmar Macêdo hat ein Buch über Lost Places in Ostwestfalen-Lippe geschrieben. In einem → Interview mit Sabine vom Blog Ferngeweht erzählt sie von ihren Recherchen und gibt Tipps in Sachen „Lost-Place-Etikette“.
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