„Es gibt nichts, was diesen Baustil höflich oder niedlich macht. Er ist, was er ist.“
Zaha Hadid
Wer Prag sagt und an Architektur denkt, hat Barock und Jugendstil, vielleicht Kubismus und Art déco im Kopf. Hat verschnörkelte Puppenhäuser, Karyatiden mit Wallehaar oder Gebäude wie Kristalle vor Augen. Aber auch blanker Beton findet sich zuhauf an der Moldau, und zwar nicht nur in den Vorstädten. Die brutalistische Architektur Prags ist facettenreich. Der Prager Brutalismus bietet fies dreinblickende Monsterbauten genauso wie Ikonen.
Mit Brutalität hat Brutalismus ganz und gar nichts zu tun. Der Begriff Brutalismus leitet sich vom französischen Wort béton brut ab, vom „rohen Beton“ also. Einzuordnen ist der Brutalismus grob zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren. Vertreten war der Architekturstil auf der ganzen Welt, in Demokratien genauso wie in Diktaturen. In der Tschechoslowakei war er Teil der Architekturmoderne, die den eher verspielten sozialistischen Realismus der Nachkriegszeit ablöste.
Als die kühle Sichtbeton-Ästhetik aus der Mode kam, wurden die brutalistischen Gebäude schon bald zu Schandflecken erklärt. Rufe nach Abriss wurden laut, nicht nur in Prag. Erst in jüngerer Zeit erlebte der Brutalismus eine Renaissance, nicht zuletzt aufgrund seines Hypes in den sozialen Netzwerken. Was für Kritiker als düster, rau und hässlich galt, wurde plötzlich cool und fotogen. Auch wir müssen zugeben, dass wir so manche brutalistische Gebäude in Prag früher ziemlich abstoßend fanden. Mit „früher“ meinen wir die Nullerjahre, als wir in Prag lebten. Nun aber betrachten wir die Bauten mit anderen Augen.
Brutalismus in Prag: Inhaltsverzeichnis
IM ZENTRUM
Die Prager Puppenstube überstand den Zweiten Weltkrieg gut. Nur wenige Bomben schufen Lücken, die wiederbebaut werden mussten. So sind in der Altstadt und der Josefstadt Bauten des 20. Jahrhunderts eher rar. In der angrenzenden Neustadt liegt der Sachverhalt jedoch anders, auch in Vinohrady und Žižkov. Dort stehen einige der spannendsten brutalistischen Gebäude der Stadt.
Nová budova Národního muzea (Neues Gebäude des Nationalmuseums)
Adresse: Vinohradská 1 (Metrostation Muzeum). Architekt: Karel Prager. Bauzeit: 1968–1973.
Ganz oben am Wenzelsplatz steht neben dem Nationalmuseum ein verdammt schräger Vogel von einem Gebäude. Der steinerne (heute verglaste) Unterbau stammt aus dem Jahr 1938, wurde von Jaroslav Rössler entworfen und beherbergte zunächst die Börse. Unter den Kommunisten war es jedoch vorbei mit dem Aktienhandel. Das tschechoslowakische Parlament zog ein.
Ende der 1960er-Jahre wurde das Parlamentsgebäude erweitert. Verantwortlich dafür war Karel Prager, einer der führenden Architekten des tschechoslowakischen Brutalismus. Er setzte einen gläsernen, auf Stelzen stehenden Kasten obenauf, ein „Haus über dem Haus“ sozusagen. Eine Lösung, die bis heute umstritten ist.
Das Parlament tagte hier bis 1992. Dann sendete Radio Free Europe sein Programm für Osteuropa und Vorderasien von hier. Seit 2018 wird das ehemalige Parlamentsgebäude vom benachbarten Nationalmuseum genutzt, beide Trakte sind heute durch einen unterirdischen Tunnel miteinander verbunden. Reingehen lohnt sich! Wer Glück hat, kann auch den ehemaligen Parlamentssaal besichtigen. Mehr Infos dazu hier.
Obchodní dům Kotva (Kaufhaus Kotva)
Adresse: Náměstí Republiky 8 (Metrostation Náměstí Republiky). Architekten: Věra Machonínová und Vladimír Machonín. Bauzeit: 1969–75.
Das Kotva, lange Zeit das Prager Kaufhaus par excellence, ist ein düstere Koloss mit einer überaus spannenden Geschichte. Für den Entwurf des Kotva zeichnete das Architektenpaar Věra Machonínová und Vladimír Machonín verantwortlich. Seine größte Schaffenszeit erlebte das Paar in der kurzen Tauphase des Prager Frühlings. Von den beiden stammen übrigens auch das Hotel Thermal in Karlsbad und das Berliner Botschaftsgebäude.
Für das Kotva planten die Machoníns ein wabenförmiges Gebäude aus sechs selbsttragenden hexagonalen Modulen. Akzente setzen drei Treppentürme aus Beton. Das Gros des Gebäudes ist mit Aluminiumblechen verkleidet. Gebaut wurde das Kaufhaus von der schwedischen Firma SIAB. Die Fertigteile wurden im hohen Norden produziert und dann mit LKWs nach Prag gebracht.
Zur Einweihung des Kaufhauses im Jahr 1975 wurden die Machoníns nicht geladen. Der Geist des Prager Frühlings war den düsteren Jahren der Normalisierung gewichen. International anerkannte Architekten wurden vom System nicht mehr hofiert. Ganz im Gegenteil.
Bis zur Samtenen Revolution zählte das Kotva zu den ganz großen Konsumtempeln des Ostblocks mit bis zu 75.000 Kunden täglich. Sogar aus Bulgarien kam man der günstigen Kunstfaserklamotten wegen extra angefahren.
Nová scéna (Neue Bühne des Nationaltheaters)
Adresse: Národní 1393 (Metrostation Národní třída). Architekt: Karel Prager. Bauzeit: 1977–1983.
Für die neue Bühne des altehrwürdigen Nationaltheaters ließ sich Karel Prager, der „Visionär der tschechoslowakischen Architektur“ etwas ganz Besonderes einfallen: ein wie eine Schildkröte auf starken Beinen stehendes Gebäude, das rundum mit Glasbausteinen ummantelt ist.
Über 4000 mundgeblasene Glaselemente wurden verbaut, eines davon 40 Kilogramm schwer. Sie sind nicht nur Schmuck, sondern dienen auch als Lärmschutz für die Theaterbühne im Inneren. Auf der Prager Nationalstraße vor dem Gebäude bahnt sich die Straßenbahn klingelnd ihren Weg durch all die Autos.
Dass der Volksmund lästert, die Nová scéna sähe aus wie „gefrorene Pisse“, finden wir eigentlich ziemlich gemein. Das Areal ist schon etwas Besonderes. Im Sommer lockt die Freifläche hinter dem Theater Skater an. Und ganzjährig uns und unsere Prager Freunde die große Cafébar Nona im ersten Stock – das Innendesign ist noch very Eighties, die Preisgestaltung fair und das Publikum untouristisch. Zur Bar führt ein fast schon surreal wirkender Treppenaufgang: Glas und grüner Marmor aus Kuba.
Emauzský klášter (Emaus-Kloster)
Das Benediktinerkloster wurde gegen Ende des Zweiten Weltkriegs als eines der wenigen Gebäude in der Prager Innenstadt stark beschädigt. Die barocken Türme der Klosterkirche waren dahin.
Adresse: Výšehradská 49 (Metrostation Karlovo náměstí). Architekt: František Maria Černý. Restaurierung des Dachs im brutalistischen Stil: 1967.
1967 wurden die Türme durch zwei spitz zulaufende, geschwungene Stahlbetonschalen ersetzt – sie sind heute eine Landmarke in der Neustadt. Verantwortlicher Architekt war František Maria Černý, zu dessen Vorbildern Le Corbusier gehörte.
CAMP – Centrum Architektury a Městskéko Plánováni (Planungszentrum für Architektur der Stadt Prag)
Adresse: Vyšehradská 51 (Metrostation Karlovo náměstí). Architekt: Karel Prager. Bauzeit: 1969–73.
Errichtet wurde der mehrteilige Gebäudekomplex in der typisch schwebenden Karel-Prager-Manier als Verwaltungsbau. Drei Glas-Stahl-Pavillons sind dabei mittels eines gemeinsamen Atriums verbunden. Ihre Obergeschosse ragen teils um bis zu sechs Meter über die Untergeschosse hinaus – ein toller Anblick. Ursprünglich waren übrigens fünf solcher Kuben geplant.
Heute befindet sich in einem Gebäudetrakt das Centrum Architektury a Městskéko Plánováni (CAMP), das Planungszentrum für Architektur der Stadt Prag. Dort gibt es einen Buchladen, ein Café und immer wieder interessante Ausstellungen in wirklich außergewöhnlichem Ambiente. Weitere Infos hier.
InterContinental und President
Adressen: InterContinental, Pařižská 43/30, President, Dovořákovo nábř. 2 (nächste Metrostation Staroměstská). Architekt: Beide Hotels stammen von Karel Filsak. Bauzeit: InterContinental 1968–1974, President 1974–78.
Als „Kult-Bau des Brutalismus“ wird das Hotel InterContinental gerne bezeichnet. Der brutalistische Oschi steht am Rande der vom Jugendstil geprägten Prager Josefstadt. Schön war die neunstöckige Herberge mit mehr als 300 Zimmern zuletzt nicht mehr, aber das ändert sich gerade. Das Hotel, das heute zur Luxushotelkette Fairmont gehört, wird umfassend saniert.
Wir sind gespannt, insbesondere auf das neue Panoramarestaurant unterm Dach. Unser Foto wurde hinterm Bauzaun aufgenommen. Bessere Bilder findet Ihr hier.
Wie das Kotva ist auch das Hotel InterContinental ein Kind des Prager Frühlings. Der Bau des Hauses wurde aufgrund einer Vereinbarung zwischen der tschechoslowakischen Regierung und der Fluggesellschaft PanAm, der damaligen Eigentümerin der Hotelkette InterContinental, ins Leben gerufen. Als der Hotelbau schließlich fertig war, wehte jedoch wieder ein strenger Wind im Land. Ein von US-Amerikanern geführtes Hotel im Herzen Prags wollte man nicht mehr. Neuer Betreiber wurde der staatliche Reiseveranstalter ČEDOK.
Das brutalistische Hotel President ums Eck wurde ebenfalls von Karel Filsak geplant und jüngst umfassend restauriert.
Budova teplotechny (Teplotechny-Gebäude)
Adresse: Ječná 39a (Metrostation I.P. Pavlova). Architekten: Věra Machonínová und Vladimír Machonín. Bauzeit: 1975–84.
Unzählige Male sind wir früher achtlos an diesem Bürogebäude vorbeigelaufen, wir wohnten ums Eck. Auch hierfür zeichnen die Machoníns verantwortlich, die kreativen Köpfe hinter dem Kaufhaus Kotva. Das Besondere des Doppelerker-Baus an der Ječná-Straße sind die blau emaillierten Metallplatten, die das Gebäude verkleiden.
Wer mag, kann im Gebäude übrigens übernachten, unterm Dach ist das → Hotel Barley untergebracht. Sonderlich gute Kritiken hat es leider nicht.
Centrální dispečink DPP (DPP-Kontrollzentrum)
Adresse: Na Bojišti 5 (Metrostation I.P. Pavlova). Architekten: Eva Ružičková und Vratislav Ružičká. Bauzeit: 1972–78.
Zehn oberirdische und fünf unterirdische Stockwerke: Der Klotz mitten im schmucken Denkmalschutzgebiet ist, das müssen wir zugeben, auf den ersten Blick nicht gerade eine Wohltat fürs Auge. Und so wundert es nicht, dass das Kontrollzentrum der Prager Verkehrsbetriebe den wenig schmeichelnden Namen „Mordor“ hat und auf der Liste der hässlichsten Gebäude Prags steht. Auch als „Verkörperung kommunistischer Bosheit“ wurde es schon bezeichnet.
Hier wären wir bei einem grundsätzlichen Dilemma, was das osteuropäische Architekturverständnis angeht: Viele Osteuropäer:innen sehen Brutalismus als Auftragsarchitektur der einstigen Regime an und lehnen den Stil allein deswegen ab.
Aber es lohnt sich, das DPP-Kontrollzentrum einmal in Ruhe aus der Nähe zu betrachten. Dann nämlich ist dem Gebäude schon etwas abzugewinnen.
Linka A (Metrostationen der Linie A)
Instagramer aufgepasst! In den innerstädtischen Stationen der Prager Metrolinie A könnten Szenen von Star Trek spielen.
Auf den Fahrplänen ist die Linka A als grüne Linie eingezeichnet. Sie verkehrt zwischen Motol im Westen Prags und Depo Hoštivar im Osten der Moldaumetropole. Dabei passiert sie das Zentrum, wo sich auch die spannendsten Bahnhöfe befinden (nämlich zwischen Flora und Hradčanská). Sie entstanden zwischen 1973 und 1978, ihr Architekt war Jaroslav Otruba. Die mit Aluminiumfliesen ausgeschmückten Stationen sind farblich unterschiedlich gestaltet. Uns gefällt der in Türkis gehaltene Bahnhof Náměstí Míru besonders gut.
Žižkovská věž (Žižkover Fernsehturm)
Adresse: Mahlerovy sady 1 (Metrostation Jiřího z Poděbrad). Architekt: Václav Aulický. Bauzeit: 1985–92.
Eine Rakete auf drei Säulen: Nach siebenjähriger Bauzeit wurde der futuristische Turm 1992 als eines der letzten sozialistischen Bauwerke Prags vollendet. Mehr als 100 Meter ragt er in den Himmel. Ursprünglich sollte er vor allem die Frequenzen westlicher Sender stören. Heute dient er der Übertragung von Radio- und Fernsehprogrammen. Zudem befinden sich auf 66 Meter Höhe ein Restaurant und auf 70 Metern ein luxuriöses Einzimmerhotel (ab 720 Euro die Nacht). Alle Infos dazu gibt es hier.
Auch der Stahl-Beton-Turm mitten im historischen Wohnviertel war immer umstritten. Nach der Samtenen Revolution wurde gar der Abriss des bis dato nicht einmal fertig gestellten Turms gefordert. Dem Architekten jedoch war genau dieser Kontrast wichtig, wie er einmal betonte:
„Seine Gesamterscheinung sollte von vornherein die Möglichkeit eines direkten Vergleichs oder gar der Konkurrenz mit den wichtigen Gebäuden der Altstadt ausschließen.“
Auf 93 Metern Höhe liegt das „Observatorium“ (38 Sekunden braucht der Aufzug hinauf), von wo man einen tollen Blick über Prag genießt. Die Metallbabys, die den Turm hinaufklettern, sind Arbeiten des Prager Popkünstlers → David Černý. Nachts wird der Turm ziemlich kitschig in den Landesfarben angestrahlt.
Hlavní nádraží (Hauptbahnhof)
Auch der Hauptbahnhof an der Wilsonova ist ein seltsames Stück Prager Innenstadtarchitektur. Er besteht aus zwei Teilen:
- Aus dem ursprünglichen Jugendstilgebäude, in dem der wunderschöne Schalterbereich heute ein Café beherbergt, und…
- …aus einem brutalistischen Part (gebaut 1972–79, Architekt: Josef Danda), durch den die Passagiere heute zu den Zügen gelangen. Bislang zumindest. Pläne sehen eine komplette Umgestaltung des Bahnhofs vor.
Zum brutalistischen Teil gehört die Vorhalle. Sie besitzt eine für einen Bahnhof kafkaesk niedrige Decke, die im poppigen Seventies-Orange daherkommt. Direkt darüber verläuft heute die Stadtautobahn, die das historische Bahnhofsgebäude brutal von der Innenstadt absäbelt. Ein städtebauliches Desaster.
Dům Metrostavu (Metrostav-Haus)
Adresse: Na Moráni 360/3 (Metrostation Karlovo náměstí). Architekten: Aleš Moravec und František Novotný. Bauzeit: 1977–1989.
Typisch für viele brutalistische Gebäude Prags ist ihre lange Bauzeit. Ganze zwölf Jahre bastelte man am Dům Metrostav herum, bis man 1989 Einweihungsparty feiern konnte. Bekanntlich war sie nicht die einzige Party in jenem Jahr… Errichtet wurde das Eckhaus für die Firma Metrostav, die in sozialistischer Zeit für den U-Bahn-Bau zuständig war und heute eine der größten Baufirmen des Landes ist.
Spannend finden wir den halbrunden Vorbau, die grüne Keramikverkleidung und – ein echter Eyecatcher – die rote Uhr auf dem Dach. Metrostav ist übrigens längstens ausgezogen. Heute sitzen im Gebäude unter anderem die tschechischen Piraten.
RUND UM DAS ZENTRUM
Budova Cube (Cube-Gebäude)
Adresse: Evropská 178 (Metrostation Nádraží Veleslavín). Architekten: Stanislav Franc, Vladimír Frencl und Jan Nováček. Bauzeit: 1975–77.
Ein Gebäude thront auf Stelzen über einem anderen. Sieben Stockwerke. 20.000 Quadratmeter Nutzfläche. Der Cube-Komplex bietet die volle Ladung Brutalismus. Und sieht gleichzeitig so zeitgemäß aus, als wäre er gestern erst gebaut worden…
Errichtet wurde das Gebäude ursprünglich für das tschechoslowakische Außenhandelsunternehmen Koospol, das hauptsächlich mit Lebensmitteln handelte. Nachdem der Kommunismus in Rente gegangen war, residierten hier unter anderem T-Mobile und die Citibank. Heute dient der Bau als Sitz diverser Firmen.
Velin strahovského tunelu (Kontrollraum des Strahov-Tunnels)
Adresse: Vaničkova (nächste Tramhaltestelle Malovanka, Linien 22 und 23). Architekt: Jiří Trnka. Bauzeit: 1980–81.
Im Westen des Petřín, des Prager Hausbergs, steht das gigantische Strahov-Stadion. Dort wurden in kommunistischer Zeit Spartakiaden abgehalten, propagandistische Turnerfeste. Auf einem Plateau am südlichen Rand des Stadions kann man nicht nur auf Prag hinabschauen, sondern auch ein paar ungewöhnliche brutalistische Bauwerke bewundern. Eines der Gebäude hat es gar in einen iPhone15-Werbespot geschafft. Ihre Existenz haben die Bauten dem unter dem Stadion verlaufenden, zwei Kilometer langen Strahov-Tunnel zu verdanken.
„Ein Raumschiff, das zur letzten Spartakiade eingetroffen ist.“
In der Tat: Der Kontrollraum des Strahov-Tunnels könnte auch der Arbeitsplatz Freds vom Jupiter sein. Vom „Raumschiff“ aus werden Klimaanlage, Abgasentwicklungen und Temperaturen im Tunnel überwacht.
Gegenüber steht ein gleichermaßen seltsamer, gerippter Würfel. Er deckt einen riesigen Lüftungsschacht ab.
In unmittelbarer Nachbarschaft erblickt man zwei 49 Meter hohe Betonstelen, die fast skulptural wirken. Die Türme werden „Strahov-Zwillinge“ genannt und haben die Aufgabe, Abgase aus dem Tunnel abzuleiten.
Obchodní centrum DBK (Shoppingmall DBK)
Adresse: Budějovická 64 (Metrostation Budějovická). Architektin: Věra Machonínová. Bauzeit: 1971–1981.
„DBK“ steht für „Dům bytové kultury“, Haus der Wohnkultur. Von seiner Eröffnung im Jahr 1981 bis in die 1990er-Jahre diente das Gebäude nämlich als Möbelkaufhaus, nach der Samtenen Revolution residierte hier IKEA für einige Jahre. Der Name DKB blieb, die Möbel sind verschwunden. Heute sind hier 08/15-Shops wie Marks & Spencer oder C & A versammelt.
Die Architektin Věra Machonínova konnte brutalistische Kaufhäuser, man denke nur ans Kotva, das sie zusammen mit ihrem Mann entworfen hatte. Das DKB-Kaufhaus projektierte sie in Eigenregie und unter Aufsicht. Zu jener Zeit nämlich konnte das Architektenpaar aus politischen Gründen schon nicht mehr frei arbeiten, die Teilnahme an Architekturwettbewerben blieb ihnen versagt.
Das sozialistische Möbelkaufhaus birgt acht ineinander geschichtete Etagen, von außen jedoch sind nur vier Stockwerke wahrnehmbar. Die Treppentürme aus Beton erinnern ans Kotva. Die ursprünglich roten Rolltreppen im 18 Meter hohen Atrium sind mittlerweile leider weiß.
Uns gefallen besonders die skurrilen silbernen Lüftungshauben auf dem Parkdeck des Kaufhauses. Das Ensemble wirkt fast wie ein futuristischer Skulpturengarten.
Kongresové centrum (Kongresszentrum)
Adresse: 5. května 65 (Metrostation Vyšehrad). Architekt: Jaroslav Mayer. Bauzeit: 1976–81.
Brutalismus oder neu aufgelegter Funktionalismus? Die Grenzen verschwinden beim Prager Kongresszentrum, das als Palác kultury, Kulturpalast, das Licht der Welt erblickte. Drinnen gibt es Theater, Konzerte und Musicals in zig Sälen, der größte hat Platz für über 2700 Besucher. Von der Terrasse vor dem Gebäude blickt man hinüber zur Prager Burg.
Sportovní hala Folimanka (Sporthalle Folimanka)
Adresse: Folimanka (nächste Metrostation Vyšehrad). Architekt: Jiří Siegl. Bauzeit: 1972–76.
Dieser Solitär am Rande der gleichnamigen Parkanlage kommt als Modell oder aus der Vogelperspektive grandios daher. Steht man davor, haut einen die Halle so schnell nicht um. Die dominierende Sportart im Inneren: Basketball.
Das Besondere: Architekt Jiří Siegl (1927–2012) war selbst begeisterter Basketballer und sogar Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele 1948. Für Sporthallen hatte Siegl ein besonderes Faible. Aber auch für Villen. Siegl war es, der dem Schlagerkönig Karel Gott die erste Prager Villa baute.
Exkurs: Fakulta strojni (Fakultät für Maschinenbau)
Adresse: Technická 4 (nächste Metrostation Dejvická). Architekt: František Čermák. Bauzeit: 1959–65.
Die Fakultät für Maschinenbau gehört zum Campus Dejvice der Technischen Universität. Das Hörsaalgebäude mit der Mosaikfassade und den Säulen am Eingang stammt von František Čermák. Brutalistisch ist es nicht, aber typisch für die frühen 1960er-Jahre. Zu jener Zeit hatte man sich vom sozialistischen Realismus der Nachkriegsjahre bereits abgewendet, war bei der klaren Formensprache der Moderne aber noch nicht ganz angekommen. „Gemäßigte Moderne“ oder „Brüsseler Stil“ wird dieser Stil genannt.
Wir finden das Gebäude spannend und lassen es in diesem Beitrag über den Prager Brutalismus als kleinen Exkurs einfach mal mitlaufen.
Das horizontale Eingangsemblem stammt von Alois Fisárek. Das künstlerische Element weist auf den Schwerpunkt der Fakultät hin. Nicht bekannt ist uns, von wem die Säule mit Uhr an der am Gebäude vorbeiführenden Technická-Straße stammt:
Exkurs: Ústav makromolekulární chemie (Institut für Molekularchemie)
Adresse: Heyrovského nám. 2 (mit Tram 1 und 2 zu erreichen). Architekt: Karel Prager. Bauzeit: 1958–65.
Auch das Institut für Makromolekularchemie der Akademie der Wissenschaften ist kein brutalistischer Bau, sondern wird wie die Fakultät für Maschinenbau dem „Brüsseler Stil“ zugeordnet. Entworfen wurde das Gebäude von dem uns mittlerweile gut bekannten Karel Prager, der sich später in Gänze dem Brutalismus zuwandte. Daher möchten wir auch dieses Bauwerk kurz vorstellen.
Die Devise jener Zeit war: Weg vom sozialistischen Realismus und hin zu einer Architektur mit Elementen, die in den westlichen Demokratien en vogue waren. Dazu gehörten so genannte Vorhangfassaden aus Glaspaneelen. Die in Teilen smaragdgrünen Paneele des Instituts für Makromolekularchemie waren die ersten auf tschechoslowakischem Boden und wurden im nordböhmischen Boletice nad Labem hergestellt.
Hotel Pyramida
Adresse: Bělohorská 24 (vom Zentrum mit Tram 22 und 23 zu erreichen). Architekten: Neda Cajthamlová und Miloslav Cajthaml. Bauzeit: 1979–87.
Auch diesem Hotelklotz in Hradschin-Nähe wurde schon der wenig schmeichelhafte Titel „hässlichstes Gebäude der Stadt“ zuteil. Geplant und gebaut wurde es als Dům Rekreace ROH. Sprich: als exklusives Gästehaus für den kommunistischen Gewerkschaftsverband. Oder besser gesagt: für die obere Liga im Staat.
Die Gewerkschafter genossen hier viel Luxus: Es gab ein Schwimmbad, Saunen, Friseursalons und vieles mehr. 610 Zimmer hatte der Koloss in seinen ersten Jahren. Doch bereits 1990 wurde ROH aufgelöst und aus dem Gästehaus Pyramida ein Hotel. Heute, renoviert, gehört es zur OREA-Kette: vier Sterne, 8,9 Punkte bei Booking. Mehr Infos hier.
Budova banky (Bankgebäude in Smíchov)
Adresse: Štefanikova 22 (nächste Tramhaltestelle Arbesovo náměstí, Linien 10 und 12). Architekt: Karel Prager. Bauzeit: 1977–92.
Mit Karel Prager begannen wir, mit Karel Prager beschließen wir unseren kleinen Rundumschlag in Sachen brutalistische Architektur. Prager entwarf die meisten Bauwerke dieses Stils an der Moldau. Eigentlich hätten es deutlich mehr sein können. Doch von den 250 Entwürfen Karel Pragers wurden nur 40 umgesetzt, der Rest blieb in der Schublade.
1977 entwarf Prager für die tschechoslowakische Staatsbank dieses zweistöckige Gebäude in der Form eines oktogonalen Pyramidenstumpfs. Ein rotbraun gekachelter Solitär neben einem Wohnviertel im gleichen Baustil.
Die Arbeiten zogen sich hin. Bei der Fertigstellung 1992 stand die Tschechoslowakei kurz vor ihrer Auflösung, und auch die Staatsbank gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Stattdessen zog die Komerční banka ein. Und 2022 wieder aus. Die Zukunft des Gebäudes? Ungewiss.
Brutalismus in Prag: Noch ein paar Extrainfos
- Open House Praha: Bei diesem Festival im Mai werden spannende Gebäude der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die man sonst nicht so ohne Weiteres von innen sehen kann. Zuweilen sind auch brutalistische Bauten darunter. Mehr Infos hier.
- A489: Dieses Projekt einer Gruppe Architekturbegeisterter will die sozialistische Architektur der Tschechoslowakei zwischen 1948 und 1989 ins Blickfeld rücken. Auch auf Facebook und Instagram vertreten. https://www.a489.cz/
- Ahoj aus Prag: So nennt sich der → Blog von Lieselotte und Detmar Doering, die seit 2016 in Prag leben. Viele Artikel drehen sich um Architektur. Stöbern lohnt sich.
Reiseliteratur
Auf das eine oder andere brutalistische Gebäude stoßt Ihr natürlich auch in unserem → Reiseführer über Prag, der im Michael Müller Verlag erschienen ist.
Architektur in Tschechien – Tipps zum Weiterlesen
- Baťas Schuh(schachtel)-City: Die funktionalistische Stadt Zlín in Mähren
- Mährische Moderne: Funktionalistische Architektur in Brünn
- Giovanni Santini und die Barockgotik: Auf den Spuren des genialen Baumeisters in Böhmen und Mähren
- Prag mit Ecken und Kanten: Kubismus-Tour durch die Moldaustadt
Ich bin zwiegespalten beim Thema Brutalismus. Ich kann nie sagen ob es mir es wirklich gefällt oder eben nicht gefällt, aber prinzipiell „hat es was“. Es beeindruckt mich, weil es irgendwie stört, aber dann doch nicht so sehr, dass ich viele Bauten in Prag oder sonst so fotografiert hätte. Auf jeden Fall habt ihr einen tollen Artikel veröffentlicht, den ich gerne auf meinem Blogartikel zum Thema Jugenstil in Prag verlinke. Als Kontrastprogramm! Liebe Grüße, Gudrun
Liebe Gudrun, herzlichen Dank für den schönen Link, über den wir uns sehr gefreut haben. Ganz klar: Der Brutalismus spaltet. Ich muss sogar sagen, dass ich diesen Architekturstil früher sogar als hässlich und abschreckend befand. Der andere Blick dafür kam bei mir zusammen mit einem grundsätzlich vermehrten Interesse für die Architektur der Moderne – plötzlich sah ich viele Gebäude mit anderen Augen und konnte ihnen etwas abgewinnen. Jugendstilbauten schaue ich mir deswegen aber immer noch ebenso gerne an. Danke dir nochmal und viele Grüße, Gabi
Hej hej,
super spannend – besonders auch mit den Geschichten zu den Gebäuden.
ich mag diesen „alternativen“ Blick auf Städte und Stadtentwicklung. Speziell in Osteuropa gibt es dazu so viel zu entdecken.
Liebe Grüße
Dennis
Hi Dennis, oh ja, Osteuropa und speziell der Balkan sind diesbezüglich sicher ein Fass ohne Boden – es gibt für uns also noch viel zu entdecken. Insbesondere Sarajevo würden wir architektonisch sehr gerne einmal genauer unter die Lupe nehmen. Liebe Grüße zurück, Gabi und Michael
Hallo ihr beiden,
Wahnsinn, wieviele Gebäude ihr in diesem Beitrag zusammen getragen habt! Mit diesem Artikel bekomme ich Daniel vielleicht doch dazu, einmal nach Prag zu reisen. Er findet zu schmucke Städte ja immer langweilig, aber bei so viel Brutalismus gibt es auch genügend Fotomotive für ihn 😀 Danke für diese tollen Eindrücke!
Frohe Weihnachten und viele Grüße
Julia
Hallo Julia, Daniel können wir komplett verstehen, denn wir gehören zur selben Liga und bevorzugen eher die rauen, unperfekten und auch schmuddeligen Städte. Zu Prag aber haben wir ein besonderes Verhältnis, seit wir dort von 2000 bis 2008 gelebt haben. Wir sind weggezogen, weil sich das Zentrum Prags zu jener Zeit zu der völlig übertouristischen, seelenlosen Disneyland-Inszenierung entwickelt hat, die es bis heute leider noch ist. Das große ABER: Mittlerweile haben die coolen jungen Prager neue Viertel für sich entdeckt, die deutlich spannender sind als die Altstadt-Puppenstube. Und dort schicken wir unsere Freunde in der Regel mittlerweile auch hin. Viele der brutalistischen Bauten, die du hier gesehen hast, befinden sich ebenfalls außerhalb des Zentrums. Insofern lohnt die Stadt schon noch bzw. wieder! Überlegt es Euch mal. Ansonsten wünschen wir Euch einen guten Rutsch in ein neues Jahr mit sicherlich wieder spannenden Erlebnissen, tollen Konzertabenden und aufregenden Reisen. Liebe Grüße, Gabi und Michael