Jesus steht an der Theke. Weiße Tunika, Sandalen. Sein Kreuz, das er schon den halben Tag auf den Schultern getragen hat, lehnt hinter ihm an der Wand. In der Hand hat Jesus eines der typischen kleinen Gläser, aus denen die Brasilianer ihr Bier trinken. Ein paar römische Legionäre leisten ihm Gesellschaft, Helm und Harnisch abgelegt. Es ist Karfreitag in Diamantina. Und Pause im Passionsspiel zwischen Prozess und Kreuzigung.

Seinen glitzernden Namen verdankt Diamantina reichen Edelsteinfunden. Die Diamanten sorgten für Wohlstand und Pracht. Und wie ein Juwel funkelt das Barockstädtchen noch heute zwischen kargen Hügeln im Nirgendwo des Bundesstaats Minas Gerais.

Diamantina macht an allen Tagen des Jahres eine gute Figur. Dass wir hier aber nicht nur eine Karfreitagsprozession, sondern gar ein ganztägiges Passionsspielspektakel miterleben durften, hievt den Besuch von Diamantina in die Kategorie „unvergesslich“. Doch mehr dazu gleich.

 

Hübsche historische Altstadt im Abendlicht
Diamantina: UNESCO-Welterbe in den Hügeln von Minas Gerais

 

Nicht verwechseln: Die Stadt Diamantina (gesprochen übrigens etwa „Dschiamandschina“) hat nichts mit dem Nationalpark Chapada Diamantina im Bundesstaat Bahia zu tun!

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Ankunft und erster Rundgang

Dass die Busanreise aus der Millionenmetropole Belo Horizonte sechs Stunden dauert, hat einen großen Vorteil: Nur wenige Touristen nehmen sie auf sich. Schließlich ist man im weltberühmten Ouro Preto schneller. Diamantina, das als die Kleinausgabe Ouro Pretos gilt, blieb dadurch überaus authentisch. 47.000 Einwohner zählt die Stadt auf 1100 Höhenmetern.

 

Schön beleuchtete Gasse im Abendlicht

 

Ausländische Besucher sind etwas Besonderes und werden mit offenen Armen aufgenommen. Waren die Brasilien an der Küste schon so unglaublich gut zu uns, so wird ihre Warmherzigkeit in Diamantina noch einmal getoppt. Oft sind die Bewohner von UNESCO-Welterbe-Orten ein wenig übersättigt von Touristen. Nicht so in Diamantina.

 

Pflastergasse mit niederen Häusern
„Unsere“ Gasse

Wir bewohnen ein kleines Zimmer in einem weißen Häuschen mit grün umrahmten Fenstern, einem typischen Diamantina-Haus. Davor eine pittoreske Pflastergasse. Unsere Gastgeber heißen Leticia und Pedro, ein freundliches Paar in den Dreißigern. Leticia spricht gut Englisch und sogar ein paar Brocken Deutsch – sie ist in Freiburg im Breisgau geboren, ihr Vater arbeitete dort zu jener Zeit an der Uni. Das Häuschen, in dem sie die Zimmer vermieten, ist Pedros Elternhaus.

Leticia und Pedro lassen es sich nicht nehmen, uns kurz durch ihre Hood zu führen. Zeigen uns den kleinen Supermarkt ums Eck, Bars und Cafés. Egal wohin wir treten, wohin wir blicken: Alles an dieser Stadt scheint hübsch und aufgeräumt zu sein. Nichts Hässliches weit und breit. Wir lernen auch Rio kennen, den freundlichen Nachbarn unserer Hosts. 20 Jahre lebte er in den USA, dann kehrte er zurück in sein Heimatstädtchen. Sehnsucht war der Grund. Können wir nachvollziehen.

 

Kolonialstadt mit Kirche in grünen Bergen

Historische Häuser und Straßenlaternen
Nichts Hässliches weit und breit: Diamantina

 

Diamantina am Abend

Es gibt nur wenige Geraden in dieser Stadt. Fast überall ist es ein wenig schräg und krumm. Die Häuser Diamantinas klettern einen Hang hinauf. Nicht nur die Häuser. Wir auch. Wir wollen sehen, wie die Stadt von oben aussieht. Und werden nicht enttäuscht.

Als die ersten Laternen Saft bekommen, liegt Diamantina wie ein Postkartenmotiv zu unseren Füßen. Aus dem roten Ziegeldachteppich ragen im weichen Licht der Abendsonne Kirchtürme empor. 14 Kirchen soll Diamantina haben. Drum herum wellen sich melancholisch-karge Hügel. Ein Panorama zum Niederknien.

 

Historische Stadt mit weißen Häusern in Hügeln
Ein Panorama zum Niederknien: Diamantina am Abend

 

Danach setzen wir uns an einen der kippeligen Tische eines Restaurants, bestellen Gegrilltes und Craft Beer. Auf dem buckeligen Platz geht es laut und lustig und fröhlich zu – wie Abende in Brasilien eben so sind. Wir essen unsere Steaks und schauen vergnügt zu. Glück kann so einfach sein.

 

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Karfreitag, der Morgen

Am Morgen klopft Pedro uns aus dem Schlaf. Es ist noch weit vor acht. „Steht auf, die Prozession beginnt gleich!“ Wir stehen auf, reiben uns den Sand aus den Augen, treten vor die Tür. Und denken, wir spinnen: Römer! Römer wie aus dem Asterix-Comic gefallen:

 

Männer in Kostümen des antiken Roms

 

Wir folgen den Römern. Die ganze Stadt scheint schon auf den Beinen zu sein an diesem verhangenen Karfreitagmorgen. Kein Wunder, es ist das erste Passionsspiel seit der Corona-Pause. Wir treffen pünktlich zum Prozess sein. Er findet auf den Stufen vor der Kirche Nosso Senhor de Bonfim statt. Die Legionäre schirmen das Geschehen vor uns ab.

 

Passionsspiel Diamantina Brasilien
Der Prozess beginnt

 

Frauen in den Gewändern des alten Judäa stehen um uns herum. Sie fordern lautstark die Freigabe Barabbas’ und die Verurteilung Jesu. Wer kein Zuschauer ist, scheint Akteur zu sein.

 

 

Wenig später wäscht sich Pontius Pilatus die Hände in Unschuld. Und der Weg nach Golgota beginnt. Jesus wird von Legionären eskortiert. Im Gegensatz zu den Schächern Dismas und Kosmas muss Jesu sein Kreuz nicht gleich selbst tragen. Das bekommt er erst später.

 

Prozession mit Jesus Passionsspiel
Der Weg nach Golgota, zunächst ohne Kreuz, dann mit Kreuz

 

Der Weg nach Golgota ist lang. Zumindest in Diamantina. Der „Kreuzzug“ scheint keine Gasse auszulassen. Die Stimmung ist ernst und still. Stunden vergehen. Uns wird’s, sorry, irgendwann zu langweilig. Wir setzen uns ab, gehen auf Stadttour. Treffen dabei den Zug immer wieder.

 

Streifzug durch Diamantina

An diesem Freitag hat alles geschlossen. Karfreitag, Feiertag. An normalen Werktagen, das sehen wir am Tag darauf, geht es im Städtchen überaus geschäftig zu. Das alte Zentrum ist voller kleiner Läden, die all das verkaufen, was man so braucht. Souvenirshops aber? Kaum.

 

Historische Stadt mit Kopfsteinpflaster

 

Wir stromern durch die romantischen Gassen mit ihren weiß getünchten Häusern und bunten Fensterumrahmungen. Unter uns das buckeligste Kopfsteinpflaster ever ever. Viele Gassen könnte man direkt in den Alentejo versetzen. Würde nicht auffallen.

 

Leere Kopfsteingasse bei verhangenem Wetter
In den Gassen von Diamantina

 

In Diamantina gibt es keine aus der Reihe hüpfenden Sehenswürdigkeiten, keine großen Museen oder besonders pompöse Kirchen. Es ist das Ensemble als solches, das Zusammenspiel von allem, das hier so fasziniert. Und dann noch Jesus in der Kneipe beim Henkersbier, das ist das Tüpfelchen auf dem i.

Wenig später ist es um ihn geschehen. Als wir an der Praça Concelheiro Matta, dem Hauptplatz vor der Kathedrale ankommen, sehen wir Gottes Sohn bereits am Kreuze. Nicht mehr unser Jesus aus der Bar, sondern einer aus Holz. Jesus aus Fleisch und Blut hat Feierabend.

 

Jesus am Kreuz auf einer Bühne
Jesus am Kreuz, nun aus Holz

 

Daraufhin reißt der Himmel auf. Wir spazieren zur Rua da Glória zu einem der klein-feinen Blickfänge der Stadt: eine blaue, über die Straße verlaufende Holzpassage. Sie verband einst ein von Nonnen geführtes Internat mit dem Wohntrakt der Schwestern. Casa da Glória nennt sich dieses Häuserensemble.

 

 

Oscar Niemeyer und Diamantina

In der kolonialen Puppenstube von Diamantina fallen auch einige extravagante Bauten der brasilianischen Moderne auf. Sie stammen von keinem Geringeren als Oscar Niemeyer, dem Haus- und Hofarchitekten des ehemaligen Staatspräsidenten Juscelino Kubitschek (1956 bis 1961). Kubitschek wiederum wurde in Diamantina geboren.

Wir werfen einen Blick in das Hotel Tijuco an der Rua Macau do Meio. Es wurde 1951 als erste „anständige“ Herberge der Stadt errichtet. Heute gehört das Haus zu den eher schlichten Unterkünften Diamantinas. Die Architektur hat aber noch immer etwas. Gerne hätten wir darin gewohnt, doch war es über Ostern ausgebucht. Immerhin dürfen wir uns im Foyer umschauen.

 

Rezeption eines Hotels mit Holzfußboden
Hotel Tijuco: Im Foyer

 

Das zweistöckige Gebäude gleicht vom Aufbau her einem umgekehrten Trapez. Unten also nimmt es wenig Fläche ein, nach oben weitet es sich. Spannend sind die V-förmigen Säulen, die die Veranda mit den Balkonen verbinden, und das blaue Gitterwerk zwischen den Etagen. Und innendrin? Viel Licht, viel Holz, viel Retrocharme.

 

 

Ein anderer Niemeyer-Bau ist heute ein Lost Place: der Clube Social, den wir eher zufällig an der Rua de São Francisco entdecken. Das ehemalige Sportareal mit Tennisplätzen, Badminton-Areal und einem 25-Meter-Pool wurde 1944 eröffnet. Hier traf sich die High Society von Diamantina.

 

Lost Place: der ehemalige Clube Social von Oscar Niemeyer

 

Heute rappen unter den morbiden Bögen die wohl coolsten Jungs der Stadt. Schaut Euch mal bitte dieses Video an. Absolut MTV-reif:

 

 

Karfreitag, der Abend

Die Dunkelheit legt sich wie ein Tuch über Diamantina. Wir chillaxen in unserem Zimmer. Auf einmal hören wir ein monotones Hämmern näher kommen, ein Klopfen und Stampfen, das wir nicht zuordnen können.

Wir treten nach draußen und staunen Bauklötze. Wieder marschieren die römischen Legionäre durch unsere Gasse. Dieses Mal mit einer Gruppe von Nonnen, die ein leeres Bett tragen. Vermieter Pedro klärt uns auf: „Symbolisch holen die Frauen nun den toten Jesus vom Kreuz und betten ihn weich.“ Im monotonen Takt stoßen die Legionäre dazu ihre Lanzen auf das Kopfsteinpflaster. Der gruselige Soundtrack dieses ohnehin schon unheimlichen Zugs produziert Gänsehaut.

 

Nonne trägt leeres Bett
Der letzte Akt des Passionsspiels: Nonnen tragen ein leeres Bett zur Bühne und holen Jesus vom Kreuz

 

Für ein Stück begleiten wir die Prozession. Dann zieht es uns in die nächste Bar. Die Kneipen sind voll, ein paar Diamantenser auch. Von wegen Trauertag mit Tanzverbot! Stattdessen: Good Friday mit Bier und Schnaps und bester Laune. „Wenn wir Jesus sehen, geben wir ihm einen aus“, sagen wir uns. Doch Jesus ist verschwunden. Schade.

 

Kneipen mit Tischen draußen schön beleuchtet
Die Kneipen bestens besucht: Karfreitag in Diamantina

 

Diamantina: Praktische Infos

  • Hinkommen: Es gibt vier bis fünf Busse pro Tag von Belo Horizonte nach Diamantina. Die Busse brauchen für die rund 300 Kilometer sechs Stunden!
  • Unterkommen: Zahlreiche Unterkünfte in allen Kategorien. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist gut. In der Regel wohnt man in charmanten Kolonialhäusern. Wer in Oscar Niemeyers → Hotel Tijuco unterkommen will, sollte sich rechtzeitig um ein Zimmer kümmern, zumindest zu Ostern. Dann ist Diamantina verständlicherweise bestens gebucht, denn das Städtchen ist ein beliebtes Ziel der Brasilianer.
  • Sicherheit: In Diamantina haben wir uns nicht eine Minute unsicher gefühlt.

 

Mehr Brasilien bei uns auf dem Blog

 

 

2 Kommentare

  1. So, nun bin ich endlich dazu gekommen, euren Artikel zu lesen. Super 🙂 Ich liebe solche katholischen Riten und Bräuche und Sonderlichkeiten. Ich könnte die jedes Jahr aufs Neue anschauen und immer neue entdecken.
    Ich hatte beim lesen des Titels gedacht, es ginge um irgendein Städtchen in Südeuropa… hätte auch sein können.

    Bin aber verblüfft, dass der Karfreitag in Brasilien Feiertag ist. in den gut katholischen Ländern Europas (Österreich und Italien z.B.) ist er das ja beispielsweise nicht.

    • Liebe Ilona, dankeschön fürs Feedback. Ja wirklich, was wäre die Welt ohne diese Events. Du, auch im erzkatholischen Malta ist der Karfreitag ein Feiertag. Dafür kennen die Malteser keinen Ostermontag. Viele Grüße aus Malta nach Florenz, Gabi und Michael

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