Rio de Janeiro, das müssen wir sagen, hat uns auch bei unserem zweiten Besuch nicht abgeholt. Trotz einer Lage zum Luftanhalten. Trotz seiner legendären Strände. Und trotz der Fröhlichkeit der Cariocas, wie die sieben Millionen Einwohner der Megacity genannt werden.
Vieles kommt uns überbewertet vor, allen voran die Copacabana. Die Sicherheitsproblematik strengt an. Und richtig coole Viertel zum Umherstreifen, Stöbern und Staunen haben wir auch dieses Mal nicht entdeckt. Aber vielleicht muss man einfach länger dableiben als die paar Tage, die wir für Rio veranschlagt haben.
Ein Highlight gab es aber trotzdem bei unserem letzten Besuch in Rio de Janeiro: den Porto Maravilha an der Guanabara-Bucht. Der ehemalige Schandfleck wurde zu den Olympischen Sommerspielen 2016 durchgekärchert und aufgebrezelt. Heute gibt es dort hochkarätige Museen und riesige Murals von Kobra, einem der weltweit gefeiertsten Streetart-Künstler. Aus der No-go-Area wurde eine Must-go-Area. Und die schauen wir uns nun mal an.
Inhaltsverzeichnis
Porto Maravilha: Vom Schmuddelkind zum Touristenziel
Museu do Amanhã: Das Museum von morgen
Museu de Arte: Im Zeichen der Kunst
Weitere Street Art am Boulevard Olímpico
Zwei Superlative Lateinamerikas: Yupstar und AquaRio
Cais do Valongo: Anleger der Sklavenschiffe
Igreja e Mosteiro de São Bento: UNESCO-Welterbe-Kirche in Gold
Porto Maravilha: Vom Schmuddelkind zum Touristenziel
Der Porto Maravilha, der „Wunderbare Hafen“, war bis zu seiner Umgestaltung alles andere als wunderbar. Glaubt man den Erzählungen, war die Gegend mehr als abgefuckt. Verrucht, die Straßen ein Strich. Die alten Hafenspeicher aufgegeben. Viele Häuser verlassen. Wer nicht hierher gehörte, wagte sich auch nicht her. Ein Un-Ort an einer Kloakenbucht.
Die Olympiade bot den Stadtvätern die passende Gelegenheit, das düstere Viertel aufzuwerten. Vorbilder von gekonnt revitalisierten Hafenarealen gab es zu diesem Zeitpunkt ja schon einige in der Welt: der Vieux Port von → Marseille beispielsweise, die Waterfront von → Valletta oder die Victoria & Alfred Waterfront von Cape Town.
Noch bevor am Porto Maravilha 2016 die olympische Fackel brannte, wurde die Verkehrsstruktur völlig verändert, dabei eine alte Hochstraße abgerissen. Nach und nach entstanden tolle Museen. Das Prestigeprojekt funzte. Wo man früher nach schnellem Sex Ausschau hielt, treffen sich heute Jogger, Angler, Touristen und Kunstinteressierte.
Museu do Amanhã: Das Museum von morgen
Der Himmel macht blau. Wir stehen an der Praça Mauá, einem weitläufigen lichten Platz. Vor uns das Museu do Amanhã, ein Museum in Raumschiffform und eines der Wahrzeichen Rios. Sein Erschaffer: der spanische Stararchitekt Santiago Calatrava.
Die neofuturistische Architektur-Verrücktheit in Schwanenweiß ragt auf einem Pier in die Guanabara-Bucht hinein. Sie wirkt sexy und luftig wie ein Spitzen-BH. Calatrava soll das Gebäude einer blühenden Bromelie nachempfunden haben. Die stachelartigen Solarpanels auf dem Dach, die sich wie Flügel bewegen, symbolisieren die Blüten. Sie tragen dazu bei, dass das Museu do Amanhã klimaneutral ist.
Die Gesetze der Statik scheinen bei diesem Bauwerk ad absurdum geführt worden zu sein. Die zarten Säulen, die das Gebäude tragen, stehen in einem Pool. Über dem Wasser schwebt der sechs Meter hohe Aluminiumstern des US-amerikanischen Künstlers Frank Stella. Puffed Star II nannte er die Arbeit. Ein Stern unterm Raumschiff – na wenn das nicht passt. Kein Wunder, dass der Ort bei Selfiejägern angesagt ist.
Die lange Schlange am Eingang schreckt derart ab, dass viele von einem Besuch des Inneren absehen. Ein Fehler, den Ihr nicht machen solltet! Die Ausstellungen beschäftigen sich mit Themen wie Klimawandel, Überbevölkerung und Nachhaltigkeit. Ideen stehen im Mittelpunkt, keine Objekte.
Mehr Infos über das Museum findet Ihr hier.
Museu de Arte: Im Zeichen der Kunst
Ständig auf ein strahlend weißes Gebäude unter einer gleißenden Sonne zu blicken, verwirrt das Auge. Die ganze Stadtlandschaft um uns herum wirkt wie überbelichtet, als wir uns weiter auf der Praça Mauá umsehen.
Gegenüber dem Museu do Amanhã steht das Museu de Arte (kurz MAR), das, obwohl architektonisch auch recht spannend, gegenüber dem Raumschiff fast ein wenig bieder daher kommt. Für den Tempel der Künste aus dem Jahr 2013 zeichnete der brasilianische Architekt Bernardo Jacobsen verantwortlich. Er verband einen Palast aus der Jahrhundertwende mit einem modernen Zweckbau. Das vereinende Element ist ein wellenförmiges Da
Im historischen Gebäude wird Kunst gezeigt, zeitgenössische genauso wie brasilianische Klassiker. Zudem gibt es immer wieder interessante Wechselausstellungen, die sich auch mit der afrobrasilianischen Geschichte des Landes beschäftigen. Im Neubau ist eine Kunstschule untergebracht.
Weitere Information über das Museum findet Ihr hier.
Etnías: Kobras riesige Murals
Klein ist die Gabi und groß ist der Kobra. Wir stehen vor den riesigen Murals des kolumbianischen Streetart-Gotts Kobra und staunen uns die Augen aus. Etniás nennt sich Kobras Arbeit am Bouvelard Olímpico.
Etnías hat eine Fläche von 3000 Quadratmetern und gehört damit zu den größten Streetart-Projekten weltweit. Zu sehen sind die spektakulär schönen Porträts von fünf Menschen aus fünf Kontinenten.
Auch wenn die Arbeiten seit ihrer Entstehung im Jahr 2016 schon ziemlich ausgebleicht sind, so haben sie doch nichts an Faszination verloren. 70 Tage arbeitete Kobra an seinem Meisterwerk. Rund 2800 Sprühdosen gingen dafür drauf.
Weitere Street Art am Boulevard Olímpico
Am zwei Kilometer langen Boulevard Olímpico hat sich nicht nur Kobra verewigt. An diesem Boulevard sind die meisten Wände bunt, in Farbe getaucht von diversen Streetart-Künstler*innen.
Nicht alle Arbeiten an den alten Lagerhallen, Ruinen und diversen Mauern können wir Künstlern zuordnen. Auffällig aber ist, dass in Rio vergleichsweise viele Frauen am Werkeln sind. Das ist keine Selbstverständlichkeit – die Streetart-Szene ist immer noch sehr maskulin geprägt, und zwar weltweit.
→ Marina Lattucas großes Thema sind Menschenmengen. Kein verwunderliches Leitmotiv bei einer Künstlerin aus Rio.
Die komplette Fassade einer Häuserruine nimmt eine schöne Dame ein, für die → Panmela Castro verantwortlich zeichnet. Die Menschenrechtsaktivistin, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter engagiert, pendelt zwischen Rio und São Paolo. Sie bemalt nicht nur Steinwände, sondern auch Leinwände.
→ Lya Alves ist eine Künstlerin aus der nahen Stadt Niterói. Auch sie macht sich für die Rechte von Frauen stark. In ihren Arbeiten betont sie die weibliche Stärke. Oft bildet sie schwarze Frauen ab. Das Mural dieser Frau mit roter Rose finden wir sehr beeindruckend:
Der Künstler → Gil Faria hat das Gemälde Tattooed black woman selling cashew des französischen Malers Jean Baptiste Debret aus dem Jahr 1827 neu interpretiert:
Gil Faria arbeitet häufig in den Favelas von Rio. Auch dieses Mädchen mit den blauen Haaren stammt von ihm:
Die traurig wirkenden Jungen sind eine Arbeit von Sebá Tapajós, eines farbenblinden (!) Künstlers aus der Großstadt Belém im Bundesstaat Pará. Er ist viel in den Dörfern des Amazonasgebiets unterwegs, wo er teils beeindruckende Werke hinterlässt.
Zwei Superlative Lateinamerikas : Yupstar und AquaRio
Aus 88 Metern Höhe über die alte Hafenfront Rios blicken – das könnt Ihr vom Riesenrad Yupstar, das sich ebenfalls am Boulevard Olímpico befindet. Es wurde 2019 als größtes Riesenrad Lateinamerikas eingeweiht. Die Kabinen sind klimatisiert, die Schlangen lang und die Aussichten mit Sicherheit der Hammer. Von oben erblickt man unter anderem den Zuckerhut, die Christusstatue und die gesamte Guanabara-Bucht. Schade, dass das Teil nicht in Betrieb war, als wir davor standen.
Alle Infos zum Riesenrad findet Ihr hier.
Nahebei der nächste Superlativ: Das AquaRio soll das größte Aquarium ganz Südamerikas sein. 3000 Tiere von 350 Spezies tummeln sich dort.
Alle Infos zum Aquarium gibt es hier.
Cais do Valongo: Anleger der Sklavenschiffe
Wir kehren dem Meer den Rücken und spazieren landeinwärts. Es riecht nach Pipi, wie fast überall in dieser Stadt mit ihren Tausenden von Obdachlosen und viel zu wenigen öffentlichen Toiletten.
Wir passieren ein Mural des portugiesischen Streetart-Künstlers → Pantónio. Für seine organisch wirkenden Arbeiten verwendet Pantónio meist die gleichen Farben. Tiere spielen die Hauptrolle. Pantónio schmückt Industrieanlagen und Brücken mit faszinierenden Riesengemälden. Was er aber in Rio hinterlassen hat, finden wir im Vergleich eher schwach:
Doch wir schweifen ab. Eigentlich wollen wir zu einem der traurigsten historischen Orte, die Rio zu bieten hat. Unser Ziel: die Ausgrabungsstätte Cais do Valongo, UNESCO-Welterbe seit 2017.
Der Cais do Valongo, der Valongo-Kai, gehört nicht aufgrund seiner Monumentalität oder seiner kunstgeschichtlichen Bedeutung zum Welterbe dieses Planeten. Der Cais do Valongo hat es auf die UNESCO-Liste geschafft, weil er ein Ort ist, den man nicht vergessen darf. Nie.
Der Cais do Valongo steht für eines der größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf diesem Erdball. Er erinnert daran, dass Rio de Janeiro einst der wichtigste Umschlagplatz des transatlantischen Sklavenhandels war. Etwa die Hälfte aller Menschen, die zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert aus Afrika nach Amerika verschleppt wurden, landeten in Brasilien an. Allein zwischen 1811 (Fertigstellung des Cais do Valongo) und 1831 (Verbot des transatlantischen Sklavenhandels) gingen hier geschätzt bis zu einer Million Menschen aus Afrika von Bord.
Den Schiffsanleger sucht man heute weit abseits des Meeres. Der Grund: Die Küstenlinie verschob sich im frühen 20. Jahrhundert aufgrund von Landaufschüttungen.
Nahe dem Cais do Valongo befindet sich der Cemitério dos Pretos Novos. Sklaven, die auf hoher See der Tod ereilte, ruhen hier nicht, sie wurden bereits während der Überfahrt ins Meer geworfen. Wer aber bei der Ankunft in der Bucht von Guanabara verstarb, wurde auf dem „Friedhof der neuen Schwarzen“ verscharrt – ein mehr als euphemistischer Name für ein Massengrab mit den Gebeinen von 20.000 bis 30.000 Menschen. Das Gräberfeld wurde erst 1996 wiederentdeckt. Seitdem gibt es dort, genauer an der Rua Ernesto 32–34, auch eine Gedenkstätte. Sie ist für die afrobrasilianische Bevölkerung Rios von enormer Bedeutung.
Igreja e Mosteiro de São Bento: UNESCO-Welterbe-Kirche in Gold
Nur wenige Fußminuten vom Cais do Volongo entfernt, steht auf einer Anhöhe eine Kirche mit angeschlossenem Kloster. Auch sie hat es auf die Liste des UNESCO-Welterbes geschafft. Wie konträr Welterbestätten doch sein können. Da der Ankunftskai der Sklavengaleeren, ein Relikt unermesslichen Leids. Dort die Igreja de São Bento, eine Barockkirche unermesslicher Pracht. Dabei würde es das eine Welterbe ohne das andere nicht geben.
Denn die Kosten für den Bau der Kirche wurden mit Gewinnen aus den Zuckerrohranbau beglichen. Und drei Mal darf man raten, wer auf den Zuckerrohrplantagen zu schuften hatte. Afrikanische Sklaven waren es auch, die das Kloster Stein für Stein errichteten. Davon erfährt man allerdings erst, wenn man der wunderschönen Kirche ein wenig hinterher recherchiert. Ihr Inneres ist auf jeden Fall ein goldener Schnitztraum. Glitzernd, funkelnd, spektakulär.
Mehr Rio de Janeiro
Die klassischen Sehenswürdigkeiten der Megacity beschreiben Tina und Manfred vom Urlaubsreise.blog in ihrem → Artikel über Rio de Janeiro.
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