Belo Horizonte, Brasilien, 1940. Die Hauptstadt des Bundesstaats Minas Gerais hat gerade 211.000 Einwohner (heute 2,5 Millionen). Ein junger Bürgermeister mit kühnen Ideen engagiert zwei noch jüngere Visionäre, einen Architekten und einen Landschaftsarchitekten. Diese sollen ihm acht Kilometer nordwestlich des Zentrums eine Gartenstadt im modernistischen Stil errichten.
Der 38-jährige Bürgermeister heißt Juscelino Kubitschek und wird 1956 brasilianischer Staatspräsident. Der 31-jährige Landschaftsarchitekt ist Roberto Burle Marx, Wikipedia nennt ihn heute den „Begründer der modernen Gartenarchitektur“. Die Entwürfe für die Gebäude stammen vom 33-jährigen Oscar Niemeyer. Ein paar Jahre später wird Niemeyer in weiten Teilen die neue Hauptstadt Brasília entwerfen.
Durch Pampulha, sein Lehrlingsstück, wurde Niemeyer international bekannt. In nur drei Jahren entstanden neben ein paar Pavillons und einfacheren Bauten das Wohnhaus der Familie Kubitschek, ein Casino, ein Sportclub, ein Tanzsaal und eine Kirche – platziert an den Ufern eines von Burle Marx künstlich angelegten Sees.
Während die Nazis in Europa wüteten und Deutschland mit klobiger Macht- und Einschüchterungsarchitektur versahen (man denke an das Reichsparteitaggelände in Nürnberg oder den Flughafen Tempelhof in Berlin), bereicherte Niemeyer das Tropenidyll von Pampulha mit leichtfüßigen Architekturkühnheiten. Seit 2016 ist das „Ensemble der Moderne Pampulha“ UNESCO-Welterbe. Und das schauen wir uns nun einmal genauer an.
Hinweis: Alle hier aufgeführten Gebäude von Pampulha liegen an der Uferstraße Avenida Otacílio Negrão de Lima. Mehr praktische Infos am Ende des Beitrags.
Inhaltsverzeichnis
Casa Kubitschek: Das Wochenendhaus des Bürgermeisters
Igreja de São Francisco de Assis: Eine Kirche als Kurvenstar
Iate Tênis Clube: Der Sportclub mit dem gewissen Etwas
Casa do Baile: Vom Tanzlokal zum Ausstellungsort
Casa Kubitschek: Das Wochenendhaus des Bürgermeisters
Unsere Tour durch die weitläufige Gartenstadt von Pampulha starten wir an der Casa Kubitschek. Das Wochenendhaus des Bürgermeisters Juscelino Kubitschek steht heute als kostenlos zugängliches Museum jedermann offen. 680 Quadratmeter Wohn-, 2800 Quadratmeter Grundstücksfläche. Eine Datsche der Extraklasse also. Schlicht, schön und durch und durch lateinamerikanisch.
Vom Foyer führt eine filigrane Treppe nahezu freischwebend in die oberen Räume mit den Schlaf- und Badezimmern. Egal ob Glasbausteine, Azulejos oder Möbel – dieses Haus lässt das Herz jedes Mid-Century-Fans höher schlagen.
Im von Roberto Burle Marx geschaffenen Garten der Pool, heute ein Zierteich.
Juscelino Kubitschek nutzte das Gebäude nur bis zu seinem Umzug nach Rio de Janeiro im Jahr 1945. Dass das ursprüngliche Interieur so gut erhalten ist, ist der Pflege nachfolgender Bewohner:innen zu verdanken.
Einen schönen Blick auf den verzweigten, halbinselreichen See hat man vom Aussichtspunkt gegenüber der Casa. Dort sieht man Juscelino Kubitschek (1902–1976) mit den Hauptakteuren des Pampulha-Projekts: Oscar Niemeyer (1907–2012), Roberto Burle Marx (1909–1994) und Cândido Portinari (1903–1962). Portinari gehört zu den international bekanntesten brasilianischen Malern, er verzierte mehrere Bauten von Pampulha.
Igreja de São Francisco de Assis: Eine Kirche als Kurvenstar
Dieses Gotteshaus steht nicht. Es liegt. Die dem Heiligen Franz von Assisi geweihte Niemeyer-Kirche ist das Aushängeschild Pampulhas. Von Wasser umgeben, aus parabolischen Bögen bestehend, kurvenreich und weich.
„Von den Kurven der Frauen, aber auch von den Bergen und Flüssen meines Landes beziehe ich meine Inspiration. “
Oscar Niemeyer
Der Stahlbetonbau hat etwas Verspieltes, gleichzeitig wirkt er maritim. Hat etwas von einem Hangar, in dem ein Ufo mit vier Höckern parken könnte. Der dreieckige, sich nach oben verjüngende Glockenturm steht campanileartig separat vom Kirchengebäude. Die Azulejos an der Rückfassade stammen von Cândido Portinari.
Die Kirche war 1943 fertig. Doch der geschwungene Bau empörte die Kirchenväter derartig, dass sie jahrelang geschlossen blieb. Manche entdeckten in der Kirche gar versteckt eingearbeitete Symbole des Kommunismus. (Niemeyer war bis 1990 Mitglied der Kommunistischen Partei Brasiliens und zeit seines Lebens Marxist.) Erst 1959 wurde die Kirche eingeweiht.
Für gewöhnlich ist die Kirche tagsüber zugänglich. Uns wurde an unserem Pampulha-Tag aus unerfindlichen Gründen leider kein Einlass gewährt. Daher können wir Euch nur ein Bild durch die Scheibe liefern, was sehr sehr schade ist.
Spaziert man von der Kirche weiter am See entlang, kommt man am Estádio Governador Magalhães Pinto vorbei, im Volksmund Mineirão genannt. Es handelt sich um jenes legendäre Fußballstadion, in dem Bayern München 1976 vor 117.000 Zuschauern den Weltpokal holte. Und in dem die deutsche Nationalmannschaft am 8. Juli 2014 mit einem 7:1 gegen Brasilien den Einzug ins WM-Finale feierte.
Iate Tênis Clube: Der Sportclub mit dem gewissen Etwas
Was heute Yacht- und Tennisclub heißt, hieß früher Yacht- und Golfclub. Das von Säulen getragene Obergeschoss beherbergt einen Veranstaltungssaal mit Seeblick. Der untere Bereich ist mit schönen Azulejos geschmückt.
Touristen dürfen zu den gewöhnlichen Öffnungszeiten umherspazieren und das Gebäude fotografieren. Ausnahme: der Poolbereich.
Casa do Baile: Vom Tanzlokal zum Ausstellungsort
In Pampulha spiegeln sich Gebäude im See, scheinen in Teilen mit der natürlichen Umgebung fast zu verschmelzen. Der Dialog mit der Natur waren Oscar Niemeyer und Roberto Burle Marx bei der Umsetzung des Pampulha-Projekts wichtig. Das fällt insbesondere bei der Casa do Baile auf.
Die Casa do Baile befindet sich auf einer künstlichen Insel, eine Betonbrücke führt hinüber. Das Kurvig-Wellige, das Krummlinige sollte Oscar Niemeyers Formensprache über viele Jahrzehnte hinweg charakterisieren, einzigartig machen. In Pampulha begann der junge, von Le Corbusier so begeisterte Architekt damit.
Geplant war das Gebäude als Restaurant und Tanzsaal. Heute wird es als Ort für Ausstellungen genutzt. Auf glänzendem Parkett spazieren wir vorbei an wunderschönen Schwarz-Weiß-Fotos der Niemeyer-Gebäude von Brasília. Alles zusammen ein einziger Augenschmaus.
Museu de Arte: Das geschlossene Museum
Was für eine Enttäuschung! Ein Uber-Fahrer bringt uns vorbei an zahlreichen Nobelvillen zum Museu de Arte auf der Nordseite des Sees. Dort stehen wir erneut vor verschlossenen Türen. Glaubt man den Bewertungen im Netz, scheint das Kunstmuseum von Belo Horizonte mehr geschlossen zu sein als offen zu haben.
Das von einer Halbinsel über den See blickende Gebäude wurde als erster Bau Pampulhas projektiert, ursprünglich als Spielcasino. Niemeyer brauchte angeblich nur eine Nacht, um es zu entwerfen. Lange aber standen die Roulettetische hier nicht. Bereits 1946 wurde das Glücksspiel in Brasilien verboten.
In den 1950er-Jahren wandelte man das Gebäude in ein Museum um. Seitdem kann man hier, wenn denn offen, eine riesige Sammlung vornehmlich brasilianischer zeitgenössischer Kunst bewundern.
Wir können durch das Glas des Eingangsportals immerhin die imposante Treppenrampe bewundern. Ein beeindruckender Bau! Glas und Beton. Pfeiler tragen einen Teil des Obergeschosses, das dadurch immens leicht wirkt.
Weitere Niemeyer-Bauten in Belo Horizonte
Wenn Ihr schon mal in Belo Horizonte seid und noch mehr Niemeyer-Bauten sehen wollt, dann könnt Ihr an der zentralen Praça Liberdade gleich zwei sehen.
Das Wohnhaus Edifício Niemeyer mit seinen unzähligen Stockwerken wirkt, als würde es fließen. Mit den Kurven und Linien ahmte Niemeyer die Hügel und Berge des Bundesstaats Minas Gerais nach. Das Gebäude entstand zwischen 1954 und 1960, wirkt aber um Jahrzehnte jünger.
Aus der gleichen Zeit stammt die Staatsbibliothek am Platz. Auch hierfür lieferte Niemeyer unübersehbar den Entwurf:
Niemeyer, der bis kurz vor seinem Tod arbeitete, realisierte in den Nullerjahren noch einmal ein Megaprojekt: das neue Verwaltungsviertel von Minas Gerais, die Cidade Administrativa ganz im Norden von Belo Horizonte. Die Cidade besteht aus sieben Gebäuden. Mittelpunkt ist der so genannte Tiradentes-Palast, der mit 147 Metern Länge und 26 Metern breite als größter Hängebetonbau der Welt gilt.
Die Regierung des Bundesstaats Minas Gerais zog 2010 ein. Zwei Jahre später starb Oscar Niemeyer, einer der schaffensreichsten Architekten dieses Planeten. In Belo Horizonte sind somit seine frühesten und spätesten Entwürfe an einem Ort versammelt.
Belo Horizonte/Pampulha – Praktische Infos
- Wo? Belo Horizonte ist die Hauptstadt des Bundesstaats Mina Gerais, der in etwa so groß wie Frankreich ist. Belo Horizonte liegt ca. 450 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro im Landesinneren. Wer nicht fliegen will, nimmt den Bus (7,5 Std.). Die Gartenstadt von Pampulha – nach ihr ist heute ein ganzer Bezirk von Belo Horizonte benannt – befindet sich im Norden der Millionenmetropole direkt neben dem Flughafen.
- Unterkommen: Belo Horizonte bietet Unterkünfte jeglicher Couleur. Am Wochenende, wenn die Business-Hotels leer stehen, bekommt man für wenig Geld sehr gute Zimmer. Schaut Euch im Viertel Savassi um – tolle Lokale, witziges Nachtleben.
- Rumkommen: Nach Pampulha fahrt Ihr vom Zentrum Belo Horizontes am besten mit dem Uber (nicht nur günstiger, sondern auch sicherer als ein normales Taxi). Bis auf das Museu de Arte befinden sich alle Gebäude am Südwestufer des Sees. Ihr könnt sie der Reihe nach abspazieren (Gesamtstrecke von der Casa Kubitschek bis zur Casa do Baile 3,3 km) oder die Wege wieder mit einem Uber abkürzen. Alternativ → leiht Ihr Euch ein Rad.
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