Kubismus und Architektur, geht das zusammen? Wer an Kubismus denkt, hat für gewöhnlich Malerei vor Augen. Malerei einer avantgardistischen Kunstbewegung, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich formte. Inspiriert von den kantigen Formen der Masken und Skulpturen Afrikas, begannen Picasso, Braque, Delauny & Co, Personen und Gegenstände geometrisch abzubilden. Die neue „Würfelkunst“ galt als revolutionär.
Doch was hat es mit kubistischer Architektur auf sich? Wer „kubistische Architektur“ googelt, landet ganz schnell in Prag. Nur hier nämlich versuchten ein paar kühne Baukünstler, die gewagte Ästhetik der kubistischen Maler jener Zeit auf die Architektur zu übertragen. Es entstanden Gebäude, zu denen noch heute Architekturfans aus aller Welt pilgern.
Die Blütezeit des Prager Kubismus war nur von kurzer Dauer, etwa von 1910 bis 1914 – von einem nochmaligen Aufflackern als Rondokubismus ab 1918 einmal abgesehen.
In diesem Artikel nehmen wir Euch mit auf eine kleine Kubismus-Tour durch Prag. Wir beginnen im Zentrum und enden bei einer kubistischen Rarität in den Outskirts der tschechischen Hauptstadt.
Kubismus-Tour durch Prag: Inhaltsverzeichnis
Kubistische und rondokubistische Architektur in Prag – ein Überblick
Die kubistische Straßenlaterne
Franz Kafkas kubistischer Grabstein
Kubistische Häuser im Süden der Neustadt
Kubistische und rondokubistische Architektur in Prag – ein Überblick
Kristallin gebrochene Fassaden und diamantförmig bekrönte Fenster waren die Antwort der Prager Architekten auf die Kuben, Kegeln und Kreise von Picasso & Co. Sie gestalteten Gebäude plastisch und vermittelten so den Eindruck einer bewohnten Skulptur. Die Architekten orientierten sich dabei nicht ausschließlich an der kubistischen Malerei, sondern nahmen auch die spätgotische Prager Baukunst als Vorbild. Auf die kubistischen Architekten kommen wir bei den einzelnen Gebäuden noch zu sprechen.

Nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung der Ersten Republik 1918 entwickelte sich der Rondokubismus, quasi als Fortsetzung des Kubismus. Bei diesem wurden die eckigen, prismatischen Formen des Kubismus durch weichere, eher zylindrische ersetzt. Der Rondokubismus, auch „Nationaler Stil“ genannt, war eine patriotische Bewegung, bei der zudem folkloristische Elemente der tschechoslowakischen Volkskunst zum Zuge kamen.

Von den überladenen rondokubistischen Gebäuden mit ihren vielen Bögen und allegorischen Figuren hatte man schnell wieder genug. Der puristische Funktionalismus kam in Mode. Die „Hauptstadt“ des tschechoslowakischen Funktionalismus sollte allerdings nicht Prag werden, sondern Brünn.
Haus zur Schwarzen Madonna
Adresse: Celetná 45, Staré Město, Metrostation Náměstí Republiky.
Wir starten unsere Tour im Zeichen der kubistischen Architektur Prags im Stadtteil Staré Město, mitten in der verkitschten Prager Altstadt. Dort, an der Celetná, blickt eine schwarze Muttergottes von einer Hausecke hinab auf den unter ihr vorüber ziehenden Trubel. Die kleine Statue war schon das Hauszeichen des barocken Vorgängerbaus.

Das Dům U Černé Matky Boží mit seinen facettenartig gebrochenen, breiten Fenstern wurde 1911 von Josef Gočár, einem Begründer der modernen tschechischen Architektur und einer der Initiatoren des Kubismus in Prag als Waren- und Wohnhaus entworfen.
Heute präsentiert darin das → Prager Kunstgewerbemuseum seinen Fundus an kubistischen Schmuckstücken. Man sieht Gemälde der tschechischen Künstler Josef Čapek, Emil Filla und Bohumil Kubišta. Und man steht ehrfürchtig vor Möbeln von Pavel Jának und Josef Gočár. Darunter befinden sich viele Stücke, die wir nur zu gerne in unserem heruntergekommenen Kreuzberger Altbau hätten. Möbel wie Skulpturen!

Fotos aus dem Inneren des Museums mit seinem spektakulären Treppenhaus können wir Euch leider nicht zeigen. Weder wurden unsere eigenen Fotos vom Museum zur Veröffentlichung freigegeben, noch stellte man uns Bilder zur Verfügung. Unsere Anfrage wurde einfach ignoriert. Früher war so etwas Standard in Tschechien, heute eigentlich nicht mehr. Vielleicht wollen die noch immer, dass man einen Geldschein mitgeschickt?
Im ersten Stock des Gebäudes befindet sich das im kubistischen Stil gehaltene Café Orient. Und im Erdgeschoss kann man im Laden Kubista lauter schöne Dinge entdecken, die es ohne den Kubismus nicht geben würde.

Die kubistische Straßenlaterne
Adresse: Jungmannovo náměstí, Metrostation Můstek.
Von der Altstadt spazieren wir in die Neustadt (Nové Město) und damit zu einem echten Unikat in Sachen kubistischer Architektur. In unmittelbarer Nähe zum Wenzelsplatz und doch völlig versteckt, reckt sich die einzige kubistische Straßenlaterne der Welt dem Himmel entgegen.

Das skurrile Bauwerk samt Sitzmöglichkeit stammt aus dem Jahr 1912 und wurde vom Architekten Emil Králíček umgesetzt.
Palais Adria
Adresse: Jungmannova 31, Metrostation Můstek.
Nur einen Steinwurf von der kubistischen Straßenlaterne entfernt, steht das imposante Palais Adria. Das bedeutendste rondokubistische Gebäude Prags wurde von den Architekten Josef Zasche und Pavel Janák geplant und zwischen 1922 und 1924 erbaut.

Das Palais besitzt Türmchen und Zinnen und ist verziert mit einer überschwänglichen plastischen Ornamentik, die traditionelle böhmische und mährische Motive aufgreift. Le Corbusier nannte das Gebäude etwas abfällig einen „assyrischen Palast“. Auftraggeberin war die italienische Versicherungsgesellschaft Riunione Adriatica di Sicurità. Während der Samtenen Revolution tagte hier Václav Havels Bürgerforum. Reingucken lohnt sich. Im Foyer sieht es so aus:

Haus Diamant
Adresse: Spálená 82/4, Metrostation Národní třída.
Keine fünf Minuten später stehen wir vor dem Haus Diamant, einem Eckhaus, das 1913 als Wohngebäude errichtet wurde. Architekt auch hier: Emil Králíček. Sein Handwerk gelernt hatte der junge Králíček bei Joseph Maria Olbrich (1867–1908), der sich der Wiener Secession verschrieben hatte. Olbrich war federführender Architekt auf der Darmstädter Mathildenhöhe. Schon mal gehört?
Auch im Inneren des Gebäudes, das heute unter anderem eine Galerie beherbergt, sind noch kubistische Elemente zu finden. Der direkte Nachbar hingegen will so gar nicht dazupassen: eine barocke Dientzenhofer-Kirche. Um eine Art Übergang zwischen den beiden völlig konträren Baustilen zu schaffen, versah der Architekt die Statue des Heiligen Nepomuk mit einem kubistischen Bogen. Gefiel nicht jedem. Verständlich.
Weiterfahrt: Um vom Haus Diamant zu unserem nächsten Ziel zu gelangen, fahren wir von der Tramhaltestelle Lazarská mit Straßenbahn Nr. 9 zwei Stationen bis zur Haltestelle Václavské náměstí (Wenzelsplatz). Dort wechseln wir in den Prager Untergrund, genauer in die Metrostation Můstek (grüne Linie A). Mit dieser geht’s hinaus in den Prager Osten bis zur Station Želivského. Der Eingang zum Neuen Jüdischen Friedhof liegt gleich daneben.
Franz Kafkas kubistischer Grabstein
Der Neue jüdische Friedhof im Stadtteil Žižkov ist ein bizarr-idyllischer Ort. Das bekannteste Grab ist das von Franz Kafka, der 1924 im Alter von knapp 43 Jahren an Tuberkulose starb. Er liegt zusammen mit seinen Eltern an der Südmauer bestattet. An seine drei Schwestern, die in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten umkamen, erinnert eine Inschrift auf einer steinernen Tafel. Kafka-Fans legen vor dem Grabstein Briefe, Blumen und Steinchen nieder.
Architektur- und Kunstfans dürfte Kafkas Grabstein interessieren. Der nämlich besitzt die typisch kristalline Formensprache des Kubismus. Die schlichte Stele mit hebräischer Inschrift wurde vom Architekten Leopold Ehrmann (1886–1951) entworfen. Kubistische Gebäude plante dieser jedoch nie. Das Grab ist ausgeschildert und leicht zu finden.
Weiterfahrt: Vom Neuen Jüdischen Friedhof nehmen wir die Tram Nr. 7 in den Prager Süden. 23 Minuten dauert die Fahrt bis zur Haltestelle Výtoň, wo wir wieder aussteigen.
Kubistische Häuser im Süden der Neustadt
Nahe der Tramhaltestelle Výtoň warten drei kubistische Schmankerln auf uns. Sie gehen allesamt auf den Otto-Wagner-Schüler Josef Chochol (1880–1956) zurück.
Die erste kubistische Perle ist die leicht kristallartig wirkende Villa Kovařovic in der Libušina 3 (direkt unter der Burg Vyšehrad). Sie entstand 1912/1913 als Wohnhaus für den Baulöwen Bedřich Kovařovic. Während der kommunistischen Zeit war ein Kindergarten darin untergebracht. Zuletzt befanden sich Büros in der Villa im Haus, zugänglich ist das Gebäude leider so gut wie nie. Man kann durch die schmiedeeiserne Pforte jedoch in den Garten lugen. Als beste Wohnlage kann man die Adresse heute nicht mehr bezeichnen: vor der Tür viel Verkehr, nebenan die Eisenbahnbrücke über die Moldau.
Nicht weit von der Villa entfernt, steht an der Neklanova 30 das größte kubistische Apartmenthaus Prags. Es ist schnörkellos und asketisch – die absolute Negierung des Ornaments war Chochol wichtig. Damit nimmt der Architekt hier schon einen Stil vorweg, dem er sich in den 1920er-Jahren mehr und mehr annähern sollte: dem Funktionalismus.

An der Villa Kovařovic vorbei spazieren wir zurück zur Moldau und wenden uns kurz davor nach links. So gelangen wir nach 200 Metern zum sog. Trojdům am Rašínovo nábřeží 6–10.
Der Gebäudekomplex Trojdům, von Chochol als Dreifamilienhaus konzipiert, entstand zur gleichen Zeit wie die anderen Gebäude in der Nachbarschaft. Großartig ausgearbeitet: die Überdachungen der Eingangsbereiche und dazu die Erker.
Die Skulpturengruppe im grauen Mitteltrakt (Hnr. 8) zeigt Figuren aus der böhmischen Mythologie, darunter Libuše (mit einer Lyra in der Hand, dem antiken Zupfinstrument). Libuše war der Legende nach die Frau des ersten Přemyslidenfürsten Přemysl. Sie prophezeite eine große Stadt namens Praha – lange bevor diese entstand. Der Ort von Libušes Weissagung: Burg Vyšehrad, zu Füßen derer wiederum die kubistische Gebäudegruppe steht.

Weiterfahrt: Wir spazieren zurück zur Tramhaltestelle Výtoň und steigen dort in eine Straßenbahn mit der Nummer 17 oder 27. Diese bringt uns in etwa neun Minuten zurück ins Prager Zentrum, an der Haltestelle Pravnická fakulta steigen wir aus.
Die Lehrerhäuser in der Josefstadt
Nur einen Steinwurf von der Tramhaltestelle Pravnická fakulta entfernt, könnt Ihr euch an der Ecke Bílkova/Elišky Krasnohorské einen echten Oschi von einem kubistischen Wohnkomplex angucken: die Genossenschaftswohnhäuser für Lehrer (Učtelské domy). Sie gehen auf den weniger bekannten modernistischen Architekten Otakar Novotný zurück. Die Anlage entstand erst zwischen 1919 und 1921 und damit in einer Zeit, in der eigentlich schon der Rondokubismus vorherrschte. Schaut Euch die Details an wie die drei unterschiedlich gestalteten Hauseingänge.

Weiterfahrt: Um zur letzten Station unserer Kubismus-Tour durch Prag zu gelangen, nehmt Ihr von der bereits erwähnten Haltestelle Pravnická fakulta Tram Nr. 17 bis zur Station Kobylisy. Dort steigt Ihr um in die Straßenbahn Nr. 10 und fahrt bis Haltestelle Šidliště Ďáblice. Direkt daneben befindet sich der Eingang zum Ďáblický Hřbitov, dem Friedhof von Ďáblice (Adresse: Ďáblická 2A).
Der kubistische Friedhof
Der Friedhof von Ďáblice liegt im Nordosten der Moldaustadt. Er ist wirklich etwas Besonderes – stilrein in der kubistischen Formensprache konzipiert. Verantwortlich für den weltweit einzigen kubistischen Friedhof zeichnete der Architekt, Maler und Grafiker Vlatislav Hofman (1884–1964). Eingeweiht wurde der Gottesacker im Jahr 1914.
Auf dem Friedhof, einer der größten Prags und gleichzeitig ein Friedwald, wurde die Formensprache des Kubismus bis ins letzte Tüpfelchen ausgearbeitet. Nicht nur die achteckige Leichenhalle und die Friedhofskapelle präsentieren sich kristallin, sondern auch Friedhofsmauer, Wasserspender und selbst Mülleimer. Hier ein paar Eindrücke:
Der Friedhof ist nationales Kulturdenkmal und gleichzeitig Gedenkort. Denn auf dem Friedhof von Ďáblice liegen die sterblichen Überreste vieler Opfer der faschistischen und kommunistischen Gewaltherrschaften. Für die ersten Massengräber sorgten die Nazis, die hier ihre Hingerichteten (darunter vermutlich auch die Heydrich-Attentäter) entsorgten. Die Kommunisten machte es ihnen nach.
Literaturtipp für weitere Streifzüge durch Prag
Den ultimativen → Reiseführer zu Prag haben natürlich wir selbst geschrieben ;-). Erschienen ist er im Michael Müller Verlag:
Mehr Architektur-Themen hier auf dem Blog
- Mährische Moderne: Funktionalistische Architektur in Brünn
- Ugly Beauties: Brutalistische Architektur in Prag
- Portugiesische Moderne an der Algarve: Architektur-Sightseeing in Faro
- DDR-Architekt(o)ur: Spaziergang durch die sozialistische Planstadt Eisenhüttenstadt
- Herr der Kuppeln: Baumeister Sinans Erbe am Bosporus
Danke für diese Inspiration für meinen nächsten Besuch in Prag!
Nichts zu danken, Romy.
Liebe Angela,
was für ein toller Beitrag und in die Architektur von Prag. Ich war dort mit der Schule – ist – hmm – also schon eine ganze Weile her, aber nach deinem Beitrag habe ich wirklich Lust mal wieder hinzufahren.
Danke dafür.
Herzliche Grüße
Sonja
Liebe Sonja, hier heißt zwar keiner Angela ;-), aber trotzdem herzlichen Dank fürs Feedback. Gabi und Michael
Oh entschuldigt liebe Gabi und lieber Michael,
ich hatte auch die Kommentare gelesen – da muss sich die Angela eingeschlichen haben 😉
Viele Grüße
Sonja
Total schön! 🥰 Und ich wäre wieder ahnungslos davor gestanden ohne euren Blogpost – wobei euer genialer Reiseführer schon lange hier liegt, allerdings in einer deutlich älteren Ausgabe.
Liebe Grüße
Angela
Liebe Angela, freut uns, wenn’s gefällt ;-). Fahr mal wieder nach Prag, hat sich wirklich sehr zum Positiven verändert (wenn man von manchen Ecken in der Altstadt mal absieht). Gibt auch einen netten kleinen Campingplatz, den wir dir empfehlen können. Und beim nächsten Käffchen bringe ich dir mal ein aktuelles Buch mit. Liebe Grüße aus Kreuzberg nach Kreuzberg, Gabi und Michael