„Buenas tardes, amigo! Hola, my good friend!“

Kennt Ihr den Song der pennsylvanischen Band Ween? Wenn nicht, dann wird es höchste Zeit. Es gibt vermutlich kaum einen passenderen Soundtrack für einen Spaziergang durch das andalusische Nest El Rocío als die Westernsong-Persiflage von Ween. Sie handelt von einem Mann, der seinen Bruder „three times in the back“ geschossen hat. Und vom Leid der Mutter.

„In the night I still hear mama weeping. Oh mama still dresses in black.“

In El Rocío hätte man das Video zu dem Song drehen können. Einen skurrileren Ort als El Rocío muss man erstmal finden.

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Ein Ort wie eine Filmkulisse

Ein blauer Oktoberhimmel lacht über Andalusien, die Wolken wie wegradiert. Das ganztags siestastille 1600-Einwohner-Örtchen El Rocío döst in der Sonne, als wir dort eintreffen. Der staubig-schläfrige Ort wirkt wie die Kulisse eines Films. Eines Films, der in einer mexikanischen Kleinstadt des 18. oder 19. Jahrhunderts spielt. Keine einzige Straße ist hier geteert. Stattdessen: Sand, Sand und nochmals Sand.

 

 

Mit sandigen Füßen flipfloppen wir über die Pisten, über die überbreiten Kreuzungen und weitläufigen Plätze. Wir spazieren vorbei an ein- bis zweistöckigen Häusern, die meisten weiß wie frisch gebleachte Zähne. Wir passieren hübsche Kapellen mit Glockengiebeln, so wie sie die Spanier auch in Lateinamerika bauten. Rund 100 soll es in El Rocio geben.

 

Weiß-gelbes Haus im Kolonialstil
El Rocío: Andalusiens schrägster Ort

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Platz mit Palmen und sandigen Straßen

 

Eines fehlt jedoch im Städtchen: Leben. El Rocío, was übrigens so viel wie „Tau“ oder „Morgentau“ heißt, wirkt tot. Hier wohnt die Stille. Zumindest jetzt im Oktober. Die meisten Häuser sind verrammelt. Eine Atmosphäre wie aus einem Endzeitfilm von Roland Emmerich.

 

Leere Sandstraße in einer Stadt
Tote Hose in El Rocío

 

Die Rösser von El Rocío

Ein Pferdeapfel mitten auf der Straße. Der fiel nicht weit vom Ross. Plötzlich hören wir Pferdegetrappel und fröhliches Wiehern. Ein Trupp junger Gendarmen reitet auf Schimmeln über die leere Kreuzung.

Unsere Münder formen sich zum „O“.

 

Reiter reiten über eine leere Sandkreuzung
Rush Hour?

 

Dann eine Droschke mit zwei Männern. Pferde, Kutschen und Pick-ups sind die vorrangigen Verkehrsmittel in El Rocío, hatten wir im Reiseführer gelesen. So richtig geglaubt haben wir das aber nicht.

 

 

Am Anfang war die Statue

El Roció ist keine normale Stadt. El Rocío ist ein Nest, das sich im Laufe der Jahrhunderte um eine Wallfahrtskirche herum entwickelte. El Rocío ist ein Marienkultort, sogar eines der größten Zentren der Marienverehrung weltweit.

Doch von vorne.

Der Legende nach fand ein Jäger im 13. Jahrhundert eine Marienstatue in den Sümpfen der Umgebung. Im 14. Jahrhundert soll es hier bereits eine Einsiedelei namens Ermita de Sancta María de las Rocinas gegeben haben, deren Kapelle die Marienstatue mit dem Kind im Arm beherbergte.

Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die Marienstatue als Virgen del Rocío, als „Jungfrau des Morgentaus“ und als „Weiße Taube“ (Blanca Paloma) verehrt. Den Kult um die Marienstatue förderten vor allem Bruderschaften (Cofradías bzw. Hermandades), die sich zu jener Zeit gründeten. Diese religiösen Vereinigungen gibt es bis heute. Sie engagieren sich gemeinnützig, organisieren Prozessionen und verfügen über eine nicht zu unterschätzende Machtposition in Wirtschaft und Politik.

 

Gelb-weißes Gebäude, Sand und Reiter

 

Die Wallfahrten heute

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts finden in El Rocío Wallfahrten (Romerías) im großen Stil statt. Heute kann man das, was alljährlich während der Pfingsttage im Städtchen passiert, als ein ganz großes Spektakel bezeichnen. Und als eine der schrägsten religiösen Feierlichkeiten auf dem europäischen Kontinent überhaupt.

Rund eine Million (!) Pilger*innen kommen zu Pfingsten aus allen Teilen des Landes nach El Rocío. Über 100 Bruderschaften sind beteiligt. Sie reisen in langen Trecks an, hoch zu Pferd oder in ausladend geschmückten Ochsenkarren. Sie tragen Bolero-Jacken, archaische Hüte, Rüschenkleider und Blumen im Haar. Sie rufen „Viva la Virgen!“ („Es lebe die Jungfrau!“), singen und tanzen.

El Rocío ist während der Pfingsttage im Ausnahmezustand. Höhepunkt ist die Prozession, die in der Nacht zum Pfingstmontag beginnt. Die fast menschengroße, festlich ausstaffierte Madonna wird dann für rund zwölf (!) Stunden unter einem Baldachin durch die wogende Menge getragen. Glück hat der, der es schafft, die Madonna zu berühren.

Geschlafen wird in El Rocío zu Pfingsten kaum. Dennoch sind die Pilgerherbergen der Bruderschaften voll, und die Hotels verlangen astronomische Preise. Am Dienstag nach Pfingsten ist der Spuk vorbei. Dann reisen die Bruderschaften wieder ab, um ihren Heimatgemeinden den Segen der Madonna zu überbringen.

Live gesehen haben wir dieses Spektakel nicht. Auf ein Video können wir aber verlinken. Unglaublich, oder?

 

 

Die ausgeflogene Taube

Jetzt unter der Woche präsentiert sich das Örtchen wie ausgestorben. Die meisten Häuser sind nur zur Wallfahrt bewohnt. Lediglich am Wochenende soll es etwas voller werden, sagte man uns. Denn auch außerhalb der Wallfahrten kommen Pilgergruppen, insbesondere am Sonntag.

Zum Grande Finale unseres El-Rocío-Nachmittags wollen wir die Madonna sehen. Wir spazieren zur Wallfahrtskirche, zum Sanctuario de Nuestra Señora del Rocío. Die tempelartige Anlage entstand erst in den frühen 1960er-Jahren, auch wenn die historisierende Fassade zunächst anderes vermuten lässt. Eine Kutsche zieht gerade daran vorbei. Bildbandreif! Schnell noch ein Foto, dann treten wir ein ins strahlendweiße Innere.

 

Kutsche fährt an einer Kirche auf einer Sandstraße vorbei
Vor der Wallfahrtskirche

 

Doch welche Enttäuschung! Blanca Paloma, die Weiße Taube ist ausgeflogen, ihre Nische im Altarbereich leer. Warum das so ist, erklärt uns ein älterer Herr in der Kirche: Alle sieben Jahre im August wird die Madonna ins 15 Kilometer nördlich gelegene Städtchen Almonte gebracht. Traslado nennt sich dieser rituelle Madonnentransfer. 2019 fand er das letzte Mal statt. In Almonte bleibt die Madonna für gewöhnlich neun Monate. Erst kurz vor der Romería zu Pfingsten des darauf folgenden Jahres wird sie zurück in ihre Kirche nach El Rocío gebracht.

 

Inneres einer Kirche mit weißen Wänden und goldenem Altarbereich
No show today: Die Taube ist ausgeflogen

 

Normalerweise.

Leider aber wurden die Wallfahrten in El Rocío aus Ihr-wisst-schon-welchen-Gründen 2020 und 2021 abgesagt. Deswegen wartet die Madonna nun schon seit über zwei Jahren geduldig auf die Rückkehr in ihr eigenes Haus. Ob es an Pfingsten 2022 soweit sein und El Rocío wieder wie früher aus allen Nähten platzen wird?

Das wissen derzeit leider nur die Götter.

Nachtrag: Wir waren im Oktober 2021 in El Rocío. Der Text entstand kurz danach. Pfingsten 2022 fand der Traslado wieder wie gewohnt statt.

 

 

El Rocío – ein paar praktische Infos

  • Wie lange? Eine Übernachtung reicht, es sei denn, Ihr seid Ornithologen.
  • Vogelbeobachtungen: Direkt an El Rocío schließt der Nationalpark Coto de Doñana an. Der Nationalpark ist das größte Vogelschutzgebiet Europas und UNESCO-Weltnaturerbe.
  • Übernachten: Es gibt vor Ort einige Hotels von günstig bis gehoben. Wir selbst übernachteten auf dem → Camping La Aldea. Gepflegt, groß und natürlich gut sandig. Es werden auch Bungalows vermietet.
  • Während der Wallfahrt: Wer zur Romería kommen will, sollte so früh wie möglich buchen und bereit sein, völlig überzogene Preise zu zahlen. Eine Bruchbude mit Gemeinschaftsbad kann dann über 400 Euro pro Nacht kosten. In der Nebensaison gibt es ein Doppelzimmer bereits ab 40 Euro.
  • Reiseliteratur: Die Bibel für die Region ist der → Reiseführer Andalusien unseres Kollegen Thomas Schröder. Dort findet Ihr auch ausführliche Informationen zum Nationalpark Coto de Doñana.
  • Nach El Rocío mit Kindern: Tipps hat Mike vom Blog Gooutbecrazy parat, hier geht’s zum Artikel.

 

Mehr Spanien bei uns auf dem Blog

 

 

10 Kommentare

  1. Ich bin beeindruckt. Da könnte wirklich direkt ein Western gedreht werden. Skurril und gleichzeitig irgendwie interessant. Kommt direkt auf meine Liste!

    Liebe Grüsse
    Lisa von wanderwithlilu

    • Liebe Lisa, ja, echt schräg da. Kein Wunder, dass in Andalusien eine ganze Reihe von Western gedreht wurde, übrigens auch „Spiel mir das Lied vom Tod“. Die Drehorte waren allerdings weiter nördlich in der Wüste von Almeria. Blogbeitrag folgt.;-) Herzlichen Dank fürs Feedback und liebe Grüße zurück!

    • Liebe Julia, herzlichen Dank. Wir waren vergangenen Herbst auf einem dreimonatigen Roadtrip unterwegs: Frankreich, Portugal, Spanien. El Rocío fanden wir im Reiseführer. Und da wir Fans von seltsam-skurrilen Orten sind, wollten wir da unbedingt einmal vorbeischauen. Es hat sich gelohnt.

  2. Ach was, da bin ich offensichtlich schon ein paar Mal direkt vorbei gefahren. Unwissend was ich da verpasse. Ich habe echt noch nie von El Rocio gehört oder gelesen. Es gibt doch immer wieder Neues zu entdecken. Nächstes Mal bin ich auch da.

    Danke 🙏

    • Ja, echt spannend, was es rechts und links des Wegs immer noch so alles zu entdecken gibt. Nichts zu danken und viel Spaß in El Rocío beim nächsten Mal!

  3. Tatsächlich – wie im Western.
    Bei Euren Worten kann ich den aufgewirbelten Straßenstaub förmlich zwischen den Zähnen spüren.
    Danke für den spannenden Einblick in die Geschichte des skurrilen Pilgerortes.
    Sandige Grüße
    Mandy

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