Street Art in Tschechien? Urbane Mauerkunst ist nicht gerade das, was einem zum kleinen Nachbarland so einfällt. Eher Braten und Bier, Kubismus und → Funktionalismus, Kafka und Smetana.
In der Tat ist Street Art in Tschechien keine große Nummer, selbst nicht in der Hauptstadt. Dort entstanden zwar in den vergangenen Jahren einige spannende Murals, ihre Anzahl ist aber nach wie vor überschaubar. Es überwiegen bislang Reviermarkierungen junger Moldau-Sprayer.
Ein interessanter Ort in Sachen Street Art ist jedoch das nordmährische Olomouc (Olmütz), eine hübsche Studentenstadt. Rund 100.000 Menschen leben dort. Neben viel Barock kann man in Olomouc wirklich eindrucksvolle Murals gucken gehen. Sie sind Ergebnisse eines seit 2015 stattfindenden → Streetart-Festivals, zu dem regelmäßig hochrangige Künstler eingeladen werden. Unsere kleine Street-Art-Tour durch Olomouc bringt Euch zu den spannendsten Arbeiten.
Hinweis: Street Art ist vergänglich, in Olomouc ganz besonders. Denn Wände, die zum Bemalen freigegeben werden, gibt es da nicht all zu viele. Folge: Bestehende Murals werden immer wieder überstrichen. Das ist sehr schade, zumal so auch wirklich gute Pieces schnell wieder verschwinden. Zwei Murals, die wir noch 2022 fotografiert haben und die hier auftauchen, gibt es aktuell schon nicht mehr. Dafür könnt Ihr an den gleichen Mauern mit Sicherheit etwas anderes entdecken.
Inhaltsverzeichnis
Street Art an der Denisova: MrDheo & Co
Wir starten unsere Street-Art-Tour durch Olomouc im Zentrum an der Denisova. Dort sehen wir an der Brandwand eines historischen Gebäudes einen König mit Krone, Mantel und Schärpe. Statt eines Zepters hält er ganz zeitgemäß einen Selfiestick in der Hand.
Das Mural mit dem Titel Selfie Made King stammt vom portugiesischen Streetart-Künstler → MrDheo, der 2015 nach Olomouc geladen wurde. Abgebildet wird der englische König Edward VII. (1841–1910). Was der mit Olomouc zu tun hat? Das wissen die Götter und MrDheo. Arbeiten von MrDheo haben wir bereits bei unserer → Street-Art-Tour durch Porto kennen gelernt. Ganz ehrlich: Es gibt Besseres von ihm.
Die Dame im langen schwarzen Kleid neben dem König soll Marie Curie (1867–1934) sein, die französische Nobelpreisträgerin polnischer Herkunft. Im böhmischen Uranerz aus Jáchymov (St. Joachimsthal) entdeckte sie das chemische Element Radium. Das Porträt stammt vom tschechischen Künstler und Graphikdesigner → Oliver Heller. Wir werden auf dieser Tour noch eine andere Arbeit von ihm kennen lernen.
Schräg gegenüber dieser Wand solltet Ihr nach einer Passage Ausschau halten. Sie nennt sich Lomená-Galerie. Dort gibt es immer etwas Spannendes zu entdecken: Street Art, aber auch Installationen oder kleine Open-Air-Ausstellungen, alles ist möglich.
Wir sahen hier bei unserem letzten Olomouc-Besuch im Februar 2022 eine sehr spannende Arbeit des tschechischen Mixed-Media-Künstlers → David Strauzz. David Strauzz wurde 1976 in Kanada als Kind tschechischer Emigranten geboren und lebt seit 2015 in Prag. Seine Porträts, egal in welcher Größe, sind beeindruckend. Sie passen in ein Wohnzimmer genauso wie an die Wand eines riesigen Wohnblocks. Dieses schöne Mural nannte er To be in love with somebody.
Bezručovy sady: Masaryk an der Stadtmauer
Die Parkanlage Bezručovy sady erstreckt sich unterhalb der mittelalterlichen Stadtmauer von Olomouc. Dort erblickt man an einem Bunkerzugang einen Mann mit Spitzbart, Nickelbrille und schwarzer Kappe:
Es handelt sich um den Politiker und liberalen Humanisten Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937). Zwischen 1918 und 1935 war er tschechoslowakischer Staatspräsident und damit Staatschef eines der progressivsten und demokratischsten Staatengebilde jener Zeit. Er wird bis heute verehrt. Künstler: erneut Oliver Heller (siehe oben). Masaryk begegnen wir auf dieser Tour übrigens nicht nur einmal.
Weitere Street Art im historischen Zentrum
Wir überqueren den Horní náměstí (Oberring), an dem sich eine riesige barocke UNESCO-Welterbe-Pestsäule dem mährischen Himmel entgegenreckt und spazieren dann zum südlichen Altstadtrand. Dort befindet sich das Mährische Theater, dessen Seitenwand an der Třída Svobody regelmäßig von Street-Art-Künstlern bespielt wird.
Oft bleiben die riesigen Murals nicht einmal zwei Jahre erhalten, was sehr schade ist. So könnt Ihr diese 20 Meter hohe Arbeit von 2021 leider schon nicht mehr sehen:
Eine nicht gerade glücklich wirkende Melpomene, die Muse des Trauerspiels, trägt zwei Emojis in den Händen, einen lachenden und einen weinenden. Antike meets Social Media. Die Arbeit stammt von → Ozmo, einem heute in Paris lebenden Streetart-Künstler aus der Toskana. Der weltweit gefragte Künstler spielt gerne mit Motiven der Antike oder Renaissance.
Aber wie schon gesagt: Das Mural ist dahin. Seit 2022 ist an der gleichen Wand eine geometrische Arbeit von großer Strahlkraft zu bewundern, die vom Australier → D.R.E.Z. stammt.
An der gleichen Straße etwas weiter gen Südosten hat der indonesische Künstler → Wild Drawing 2018 die Wand einer Mühle aus dem 17. Jahrhundert mit einem schönen Mural geschmückt. Titel: The Power of Silence. Sechs Tage arbeitete der Künstler daran, zehn Stunden am Tag.
Wild_Drawing, der heute in Athen lebt, sind wir übrigens schon mehrmals begegnet, unter anderem an einer → Hotelruine in Malta.
Bevor es raus aus der Altstadt geht, schauen wir uns kurz noch in der Mlýnská und ihren Seitengassen um. Dort gibt es ein paar interessante kleinere Stencils des lokalen Künstlers → Pauser. Manche stammen noch aus der Corona-Zeit: Eine Keyborderin, die nicht mehr arbeiten kann, ein Sprayer bei der Arbeit und einiges mehr.
Pauser, geboren 1983, kommt eigentlich aus der Graffiti-Szene, ist heute jedoch vielseitig aufgestellt, arbeitet auch auf Textilien und Leinwand.
Die Murals auf dem Campus
Am Flüsschen Morava im Osten von Olomouc liegt der grüne Campus der Palacký-Universität, wo fast 22.000 Studierende eingeschrieben sind – unser nächstes Ziel. Ein paar der Studentenwohnheime sind mittlerweile mit Murals dekoriert – zweifelsohne eine Bereicherung für das Campus-Areal.
Beginnen wir mit diesem Mural von → Fat Heat, einem Streetart-Künstler aus Budapest. Fat Heat bearbeitet Mauern seit rund 20 Jahren – je größer die Mauern, desto besser für ihn. Die beiden schönen Menschen hier sind noch recht frisch, wurden erst 2021 geschaffen.
Etwas weiter kann man die Arbeit Blast Harmony des spanischen Muralisten → Koctel bewundern. Die tanzenden Zitrusfruchtköpfe sind wie alle seine Arbeiten bunt, fröhlich, saftig. Kein Wunder: Koctel stammt aus Andalusien, dem Land, in dem die Orangen nur so von den Bäumen fallen. Die Arbeit von 2019 soll an die Samtene Revolution von 1989 erinnern.
Dem gleichen Thema widmete sich der englische Streetart-Künstler Wasp Elder nahebei. Sein Mural Unlock the Air zeigt vier gesichtslose Menschen, die sich an den Händen halten, jeder durch den anderen in der Balance bleibend. Symbolisch werden hier Teilnehmer der Prager Studentendemonstration vom 17. November 1989 dargestellt, die von der Polizei brutal niedergeknüppelt wurde. Wenig später ging die kommunistische Tschechoslowakei unter.
Etwas weiter treffen wir zwischen Wohnblocks auf ein niedriges Heizhäuschen. An diesem befinden sich zwei kleinere Pieces. Die dem Jugendstil entlehnte Arbeit auf der einen Seite stammt von der finnischen Streetart-Künstlerin → Salla Ikonen. Salla Ikonen, eine große Verehrerin des tschechischen Jugendstilkünstlers Alfons Mucha, porträtierte hier Romana Junkerová, die Organisatorin des Olmützer Streetart-Festivals.
Auf der anderen Seite begegnet man Tomáš Garrigue Masaryk erneut. Hier blickt der Politiker aus einem Fenster in Form der tschechischen Landkarte. Und weint. In den sozialen Medien wurde viel darüber diskutiert, warum er weint. Über die traurigen Überreste eines Staats, den er einst schuf? Über so manche Zustände im Land? Man weiß es nicht. Der tschechische Künstler → Chemis von dem die Arbeit stammt, lässt dies offen.
Der bunt bemalte Club
Zuletzt spazieren wir noch zum S-Klub, einem schon seit Jahren, ja Jahrzehnten ungebremst populären Olmützer Club mit guten Konzerten und Partys. Früher präsentierte er sich als verdammt grauer Kasten. Heute kommt er buntgefiedert daher wie so mancher Gast.
Für das neue Outfit des Clubs zeichnet der tschechische Graffiti-Künstler → Michal Škapa verantwortlich. Škapa, 1978 geboren, arbeitet nicht nur an Mauern, sondern kreiert auch spannende Lichtinstallationen und Skulpturen.
Mehr Infos über Olomouc
- Julia vom Blog Mein Weltbuch war ebenfalls in Olomouc unterwegs. Auf ihrem → Spaziergang durch Olmütz hat sie auch Street Art entdeckt.
- Ganze elf Seiten zu Olomouc gibt es in unserem aktuellen → Tschechien-Reiseführer, der im Michael Müller Verlag erschienen ist:
Mehr Street Art hier bei uns auf dem Blog
- Murals der Algarve: Street-Art-Tour durch Lagos
- Mauerwerke am Douro: Street Art in Porto
- Bunte Eilande: Street Art auf São Miguel und anderen Azoreninseln
- Alles so schön bunt hier: Street-Art-Tour durch Berlin-Kreuzberg zum Nachspazieren
- Street Art in Istanbul: Tour durch Kadıköy auf der asiatischen Seite
Interessante Reportage mit schönen Bildern und Werken spannender Künstler (Street Art geht ja immer … auch bei mir). MrDheo war übrigens auch schon in Hannover, meiner eigentlichen Heimatstadt, aktiv …
Danke & Grüße aus Lusaka (wo ich neben dem größten Mural Sambias – eher Reklame für eine bekannte Automarke) noch nicht viel gefunden habe!
Danke dir, Wolfgang. Du hast ja auch immer schöne Street-Art-Artikel auf deinem Blog, die wir mit Spannung lesen. Viele Grüße nach Lusaka, heute aus Prag