Das Algarve-Städtchen Lagos ist voll auf Tourismus eingestellt. Hierher pilgern Surfer, um auf die beste Welle zu warten. Hierher kommen Taucher, der Felsküste wegen, der Großfische und Weltkriegswracks. Hierher zieht es im Sommer die Sonne-Strand-und-Meer-Touristen. Und hier lassen sich dank guter Infrastruktur und milder Temperaturen Überwinterer nieder. Im historischen Zentrum hört man viele Sprachen, jedoch wenig Portugiesisch.
Wir fuhren aus einem anderen Grund in die 30.000-Einwohner-Stadt: Wir wollten in Lagos Street Art anschauen, Murals anstaunen, Wandkunst fotografieren. Lagos besitzt eine der aktivsten Streetart-Szenen Portugals. Kein Wunder: In Lagos, genauer gesagt in einem ehemaligen Gefängnis mitten in der Altstadt, residiert die Kunst- und Kulturorganisation LAC (Laboratório de Actividades Criativas). Das Kreativzentrum hat es sich zur Aufgabe gemacht, regelmäßig Streetart-Künstler in den Knast zu laden, damit diese losziehen und sich an den Wänden der Stadt austoben. So kommt auch das Who’s who der Muralisten-Szene nach Lagos. Die Ergebnisse können sich sehen lassen.
Sorry übrigens dafür, dass unsere Fotos nicht ganz die sonnige Strahlkraft haben, die man vielleicht von Algarve-Fotos erwartet. Unsere Street-Art-Touren durch Lagos unternahmen wir an kühlen, verregneten Märztagen. Nur selten blickte die Sonne durch.
Länge der Tour: 7,5 km. Dauer: 4 bis 5 Std. Achtung: Street Art ist vergänglich, so auch in Lagos. In Lagos aber werden immer wieder die gleichen Mauern bespielt, nur eben von anderen Künstlern. Deswegen kann es vorkommen, dass Ihr bei Eurem Spaziergang andere Murals am gleichen Ort sehen werdet.
Street Art in Lagos: Inhaltsverzeichnis
LAC: Street Art im und um den Kunst-Knast
Beginnen wir in der kreativen Keimzelle der Murals von Lagos: im ehemaligen Gefängnis am Largo Convento Sra. da Gloría, in dem heute die Initiative LAC ihren Sitz hat. Hier residieren eingeladene Künstler*innen, hier gibt es Studios und Ausstellungsräume. Jeder kann vorbeischauen und sich dort umsehen.
Großartig finden wir die kleinteilige Arbeit einer Plattenbausiedlung mit vielen Satellitenschüsseln im ehemaligen Gefängnishof. Ihre ganze Wirkung entfaltet das Werk mit dem Titel The Garden of Edena pt.1 im Größenvergleich mit Gabi:
Die Plattenbau-Miniaturen stammen vom Berliner Künstler → EVOL aka Tore Rinkveld. Plattenbau-Miniaturen sind sein Markenzeichen. Diese Thematik zieht sich durch EVOLs gesamtes Œuvre, es gibt die Wohnblocks auch auf Stromkästen und als Skulpturen. Großartig!
Auch um das Gefängnis herum kann man tolle, allerdings kleinere Arbeiten entdecken. Sehr düster wirkt das schwarz-weiße, einäugige Gesicht mit Clownsnase. Es stammt von → Czarnobyl aka Damian Terlecki, einem polnischen Streetart-Künstler, der in Berlin lebt. Czarnobyls künstlerische Welt ist dystopisch, steckt voller Mutanten und Außenseiter. Kein Wunder: Seine Kindheit und Jugend verbrachte er an der Grenze zur Ukraine, in einer Region voller Industriegebiete und rußgeschwärzter Wohnblocks.
Nur wenige Meter weiter versuchen sich schwerelose Männer an einer verrosteten Metalltür erfolglos die Hände zu reichen. Auch wenn die Arbeit samt Tür schon ordentlich Patina angesetzt hat, so ist sie doch bemerkenswert. Verantwortlich zeichnet der norwegische Stencil-Künstler → Anders Gjennestad aka Strok. Sein roter Faden: Figuren in einer Welt ohne Schwerkraft und physische Gesetze. Auch Strok lebt in Berlin.
Weitere Street Art nördlich des Zentrums
Vom Gefängnis spazieren wir hinab zur Avenida da República. Dort hat der Streetart-Künstler → Samina einer der bedeutendsten portugiesischen Autorinnen des letzten Jahrhunderts ein Denkmal gesetzt: Sophia de Mello Breyner Adresen (1919-2004). Sie schrieb unter anderem Kinderbücher, Essays und Theaterstücke und engagierte sich gegen Salazar und den Estado Novo. Leider wurde von ihrem Werk bislang nur wenig ins Deutsche übersetzt.
Zu finden ist das Mural der Literatin an der nach ihr benannten Grundschule. João Samina lässt Sophias Porträt in geometrische Formen einfließen. Schaut mal, wie filigran die Falten der Dame herausgearbeitet wurden! Dem Portugiesen Samina, der 1989 in Setúbal geboren wurde und auch viel in Brasilien unterwegs ist, werden wir auf dieser Tour noch mehrmals begegnen.
Wendet man sich zum Hafen, wacht beim Marina Hotel ein Knochenmann über einen Parkplatz. Das Skelett mit der Kamera geht auf den spanischen Streetart-Künstler → Aryz zurück. Aryz liebt Knochen.
Rua Vasco da Gama und Umgebung
Wieder etwas weiter landeinwärts entdecken wir an der Rua Afonso Caetano eine spannende Kooperation von vier portugiesischen Streetart-Künstler*innen an einer weißgetünchten Mauer. Die rennenden Hunde, die zwischendurch zu Wölfen und dann wieder zu Hunden werden, sind faszinierend. Ihre Erschaffer: → Margarida Fleming, → Huariu, → Bigod und → Tamara Alves. Tamara Alves arbeitet oft deutlich großformatiger. Ein riesiges Mural der Lissabonner Künstlerin haben wir beispielsweise auf unserer → Street-Art-Tour durch Porto entdeckt.
Gleich ums Eck an der Rua Vasco da Gama 30 zieht ein Sträfling per Fußkette eine Kiste voller Plastikmüll aus dem Meer hinter sich her, darin unter anderem PET-Flaschen und selbst eine Barbiepuppe. Hinter der Arbeit steckt der Italiener → Fiumani, der aus der Skaterpunk-Szene stammt und oft Müll künstlerisch recycelt.
Weiter auf der Rua Vasco da Gama Richtung Zentrum passiert man eine Zeile charmanter Häuserruinen, an der sich regelmäßig Streetart-Künstler*innen austoben. Die Ruinen können also bei Eurem Besuch schon anders daherkommen. Im März 2023 sahen sie so aus wie auf den folgenden Bildern.
Es gab ein paar dezente kleinere Arbeiten von → Tona. Der Streetart-Künstler ist seit den späten 1990er-Jahren aktiv und ein Hamburger Urgestein. Seine Stencils zaubern einem ein Lächeln ins Gesicht, machen gute Laune:
Auch → Tars8Two aka Tarso Silva ist präsent. Diesem Künstler, ein in Portugal lebender Brasilianer, werden wir auf unserer Street-Art-Tour durch Lagos ebenfalls noch mehrmals begegnen. Rechts im Bild seht Ihr die von ihm interpretierte US-amerikanische Hip-Hop-Musikerin Queen Latifah.
Großartig ist das Porträt des alten Mannes mit Kippe und Ohrenmütze (oder Zöpfen?). Es stammt wie die portugiesischen Autorin Sophia de Mello Breyner Adresen von Samina. Dem Vollpfosten, der dem Mann einen rosafarbenen Schnurrbart verpasst hat, gehört ein Tritt in die… Mural-Vandalismus ist in Lagos leider weit verbreitet und einfach nur ätzend. Wir führen in diesem Beitrag ein paar Arbeiten gar nicht auf, weil sie fürchterlich entstellt wurden.
Street Art im touristischen Zentrum
Neben der Casa da Justica begegnen wir Tars8Two erneut. Hier porträtiert er die amerikanische Sängerin und Schauspielerin Alicia Keys. Für den bemalten Schneidezahn ist auch wieder irgendein Kackvogel verantwortlich:
An der Rua Silva Lopes 12 hat Tars8Two eine Santa Maria neben die gleichnamige Bar gezaubert. Dieses Mural erinnert uns sehr an mexikanische Arbeiten. Es war im März 2023 noch nagelneu, ein Local machte uns darauf aufmerksam.
Gleiche Straße, Hausnummer 30 (um die Ecke schauen!). Die gesamte Wand geht auf → Add Fuel zurück, der eigentlich Diogo Machado heißt. Blau, Blau, Blau sind alle seine Farben. Diogos Steckenpferd ist die Azulejo-Thematik. Eine sehr portugiesische Arbeit. Titel: Saudade.
Etwas weiter, es geht die Rua Lançarote de Freitas hinauf, arbeitete Add Fuel mit Samina zusammen. Die schwarz-weißen Stencils von Samina harmonieren mit Add Fuels Azulejo-Technik. Die Arbeit ist schon von 2013, sieht aber immer noch recht gut aus.
ROA & Co: Street Art im Hipsterviertel
Die Rua Lançarote de Freitas führt in eine Ecke, die man das kleine Hipsterviertel von Lagos nennen könnte. Es gibt Bars und Surfershops, coole Läden, Burritos und Bowls. Hier passt Street Art natürlich auch gut hin.
An der Kreuzung mit der Travessa da Cotovelo treffen wir unter anderem wieder auf zwei Arbeiten des guten Tars8Two, die ebenfalls sehr latinomäßig wirken. Aber vielleicht seht Ihr etwas ganz anderes, an der Mauer tut sich viel.
Von der Kreuzung könnt Ihr einen Abstecher über die Rua Cândido dos Reis zur Rua 1 de Maio machen. Dort, an Hausnummer 78, hat der portugiesische Künstler → Bigod im Jahr 2021 den Landwirten der Algarve eine Arbeit gewidmet. Man sieht Traktoren und Orangen. Den portugiesischen Zitrusbauern geht es alles andere als gut, seit die Spanier mit ertragsstarken Neuanpflanzungen die Preise ins Bodenlose fallen lassen. Die Ernte lohnt sich kaum mehr, oft verfaulen die Früchte in den Hainen. Bigod heißt im echten Leben übrigens João Domingos, er stammt aus Santarem. Oft verbindet er in seinen Stencils Geometrisches mit Organischem.
Weiter auf der Rua Lançarote de Freitas stoßen wir auf die Arbeit eins Großmeisters der Streetart-Szene: des Belgiers → ROA. Seine detailliert ausgearbeiteten Tiere, die er an die Wände sprüht, sind meist tot. Nicht aber die beiden kuschelnden Schnecken. Weitere „ROAs“ könnt Ihr bei unserer → Street-Art-Tour durch Kreuzberg und → durch Prenzlauer Berg entdecken.
Es bleibt tierisch gut. Gegenüber der Jugendherberge rasen von Fischen umschwommene Hunde einem Boot nach. Ein Geier fliegt hinterher. Zwei Schweizer waren hier am Werk: → Wes21 aka Remo Lienhard, der als Designer und Muralist arbeitet. Und → Onur, der sonst eher im Fotorealismus angesiedelt ist. Die Gemeinschaftsarbeit im Fantasy-Stil stammt von 2013 und hat leider schon etwas Patina angesetzt.
Vom Fort in die südlichen Vororte
An einer verrosteten Winsch am Forte Ponta da Bandeira am Eingang zum Hafen stoßen wir auf eine kleine Arbeit des französischen Künstlers → Guaté Mao. Wir kennen Arbeiten von ihm aus Istanbul. Seinen Stencils verschiedener Ethnien begegnet man auch in Lagos des Öfteren. Guaté Mao ist ein Phantom, das seine Identität verbirgt. Er (oder Sie?) markiert Europa.
Von der kleinen Befestigungsanlage schlendern wir Richtung Praia do Pinhão. Es geht leicht bergauf. An der Avenida dos Decombrimentos, gegenüber der Feuerwehr, hat sich 2017 der Portugiese → third alias Nuno Palhas verewigt. Die Fantasy-Arbeit nannte er Robots need Omega 3. Sie ist nicht so unser Ding. Eures?
Etwas weiter am Rossio Trindade folgen wir der Straße, die die Avenida dos Decombrimentos unterquert. Gleich zwei Murals erwarten uns in der Unterführung. Die weißen Figuren auf hellblauem Grund stammen vom Niederländer → Daan Bootlek. Weiße Männer sind sein roter Faden, manche folgen den Regeln der Physik, andere verspotten sie.
Gleich gegenüber seht Ihr ein ganz besonderes Mural, auch wenn dieses mittlerweile schon etwas mitgenommen ist. Dahinter stecken ebenfalls Niederländer, nämlich das Künstlerduo → Pipsqueak was here!!!. Das Mural wirkt wie aus einem Märchen gefallen. Ein kleines Mädchen wandert in Gesellschaft von Bären und Waschbären über einen Hügel. Ganz hinten trägt ein Bär eine junge Frau in den Armen. Die Mutter? Die Schwester? Ist sie tot? Darunter ein Vers:
„Will we push it further still… follow the leader over the hill…“
Pipsqueak was here!!! arbeitet oft mit starken Botschaften. Das Ökosystem und die Natur sind Themen des Duos.
Die Rua José Alfonso bringt uns zu einer tollen Arbeit nahe Hausnummer 3D. Dort sehen wir eine schöne Frau mit blau geschminkten Lidern und Rastazöpfchen am Unterbau einer Terrasse mit Bänken. Hinter dem Stencil steckt Andrea Michaelsson aus Spanien, die Teil des Kollektivs → Btoy ist.
Nahebei die nächste Unterführung. Dort glotzen schwarz-weiße Figuren gebannt in ihr Handy, darunter Jogger, Skater und ein Mann mit Aktenkoffer. Die ironisch-sarkastische Darstellung der Gesellschaft von heute ist ein künstlerischer Schwerpunkt von → Daniel Padure, einem in Portugal lebenden Rumänen.
Weiter hinaus in die Suburbs
Im Zentrum macht Lagos auf Vorzeigestädtchen. Weiter draußen ist vom Algarve-Charme nichts mehr zu spüren. Dort kommt Lagos ganz schön steril und mancherorts auch trostlos daher.
Am Kreisverkehr, von dem die Avenida Dom Sebastião abgeht, gibt es zwei Trafohäuschen mit hübscher Street Art. Von dem einen guckt einen Jorge Charruas Bandit Queen an. Die von → Jorge Charrua porträtierten Personen sehen meist ziemlich unglücklich aus. Der 1991 geborene Streetart-Künstler will „Traurigkeit ein Gesicht geben“.
Der monochrome alte Mann mit Brille schräg gegenüber ist wieder einmal ein Werk von Samina. Wer es ist, wissen wir nicht. Die Arbeit entstand 2017.
Danach spazieren wir stadtauswärts ins Bairro dos Moinhos, in ein Viertel, in dem früher Windmühlen standen (Moinho = Mühle). Die Mühlen gingen, Wohnblöcke kamen. An einem davon (Hausnummer 7) erinnert der portugiesische Künstler André Nada an die Vergangenheit: Ein schwarz-weißes Kind malt eine Windmühle. Puto do Bairro ist der Titel dieses Werkes aus dem Jahr 2022. Auf Deutsch: Kind der Nachbarschaft.
Schon wieder Samina! In einem ziemlich unattraktiven Eck von Lagos ist die für uns schönste Arbeit von Samina zu finden: An der Seitenwand eines Hauses an der Rua Prof. Joaquim Alberto Taquelim 4 ist die Schriftstellerin Sophia de Mello Breyner Adresen gleich zweimal zu sehen.
Weiter geht’s zum Largo Assembleia. Der Fisch am Angelhaken stammt von → Mister Thoms aka Diego della Posta, einem Römer, der in der Comicszene zu Hause ist und zu den bekanntesten italienischen Streetart-Künstlern zählt. Leider wirkt das Murals aus dem Jahr 2017 nicht mehr sonderlich frisch. Titel: Click the Bait.
Entlang der Stadtmauer
Es geht wieder Richtung Zentrum. Wir gelangen zur Stadtmauer, die hier Arm von Reich trennt. Innerhalb der Stadtmauern schicke Boutiquehotels und bessere Lokale, außerhalb Vorstadtcafés mit verhärmten Gestalten.
An der Rua de São Sebastião direkt am Stadttor grüßt ein detailliert gearbeitetes Mural von → Huariu. Der rot-weiß-schwarze Frauenkopf stammt aus dem Jahr 2021. Der Portugiese Huariu, ein Meister der Linien, ist erst seit 2014 auf der Straße aktiv. Dass bei diesem Mural die Farbe Rot mit im Spiel ist, ist ungewöhnlich für ihn. Normalerweise arbeitet er nur in Schwarzweiß.
In der Nachbarschaft an der Rua João Bonança könnt Ihr ein schönes Frauengesicht von Bosoletti entdecken:
Die pastellfarbenen Fantasy-Männer an der gleichen Straße stammen vom polnischen Streetart-Künstler → Michal „Sepe“ Wręga. What goes around comes around nennt er diese mittlerweile schon ziemlich ausgebleichte Arbeit aus dem Jahr 2014. Sepe studierte Graphikdesign in Lodz und ist heute weltweit aktiv. Auch auf unserer → Street-Art-Tour durch Istanbul könnt Ihr eine Arbeit von ihm sehen.
Zum Schluss noch ein weiteres persönliches Highlight in Sachen Street Art in Lagos. Es befindet sich in der Kopfsteingasse Rua do Jogo da Bola. Der rauchende alte Mann ist trotz seiner überschaubaren Größe spektakulär. Ganz großes Streetart-Kino. Das Porträt stammt von → Frederico Draw aus Porto, einem Hero der Urban-Art-Szene. Auf unserer → Street-Art-Tour durch Porto könnt Ihr eine andere tolle Arbeit von ihm sehen.
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