Hochkarätige zeitgenössische Kunst in Istanbul? Die gibt es. Ganz klar. Aber man muss wissen, wo man zum Kunstgucken in Istanbul hingeht. Nicht überall nämlich, wo „Kunst“ (türk. Sanat) draufsteht, muss auch Kunst drin sein – zumindest eine, die man sehen will. Dies gilt insbesondere für die Galerien und Museen des Kulturministeriums. Dort überwiegen Kalligraphie und Miniaturen, dazu Ethnokitsch und Bilder, die das Osmanische Reich verklären. Diese Orte spiegeln das Kunstverständnis der konservativen Regierungspartei wider. Wer spannende Gegenwartskunst in Istanbul sehen will, muss anderswohin.
Zum Beispiel in einen der neuen Kunstorte, die der oppositionelle Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu in den vergangenen Jahren eröffnen ließ. Im Rahmen des Projekts İstanbul Büyükşehir Belediyesi Miras (kurz IBB Miras) wurde und wird Istanbuls heruntergekommenes Erbe (= Miras), egal ob verfallener Palast oder aufgegebene Industrieanlage, zu neuem Leben erweckt. In den Ruinen von einst staunt man nun über gut kuratierte Ausstellungen, schmökert in Bibliotheken und sitzt in stylishen Cafés.
Zu den großen Kunstförderern des Landes gehören ferner schwerreiche Unternehmer(familien) und Banken.
Trotz Braindrain und staatlicher Repressalien, denen die Kunstschaffenden in der Türkei ausgesetzt sind, kann von einer Verödung der Kunstszene zum Glück keine Rede sein, zumindest nicht am Bosporus. Wir stellen Euch allein in diesem Artikel 26 spannende Orte zum Kunstgucken in Istanbul vor – und das ist längst nicht alles, was der Istanbuler Kunstzirkus zu bieten hat. Und das Beste: Die meisten der hier vorgestellten Kunstorte in Istanbul sind kostenlos!
Die besten Kunstmuseen und Kunstorte Istanbuls: Inhaltsverzeichnis
GALATA UND KARAKÖY
Museum für Malerei und Skulptur
DIE İSTIKLAL CADDESI IN BEYOĞLU
Galeri Zilberman und Galeri Nev im Mısır Apartmanı
Museum für Malerei und Skulptur der İş-Bank
DOLAPDERE UND PIYALEPAŞA
Zilberman, PI Art Works und Art Sümer
AKSARAY UND EYÜPSULTAN
AM BOSPORUS
Borusan Contemporary im Perili Köşk
KADIKÖY
PRINZENINSELN
GALATA UND KARAKÖY
Galata und Karaköy sind zwei aufstrebende Viertel nördlich des Goldenen Horns, mit schmalen Gassen und Gässchen und viel Atmosphäre. Auf der einen Seite der Galatabrücke brutzeln Fischbräter um die Wette. Auf der anderen Seite liegt, schon zum Bosporus hin, der riesige Galataport, der neue Kreuzfahrthafen. Genau dort befinden sich mit dem Istanbul Modern und dem Museum für Malerei und Skulptur auch die beiden größten Kunsttempel der Stadt. Doch Kunstfans können noch mehr entdecken.
Istanbul Modern
Das 2023 eröffnete Museum präsentiert zeitgenössische Kunst von internationalem Rang in temporären Ausstellungen. Es sitzt in einem von Renzo Piano entworfenen Neubau am Galataport. Vier Etagen werden bespielt, drei oberirdisch, eine unterirdisch. Vor der transparenten Lobby steht die sechs Meter hohe Skulptur Runner von Tony Cragg.
Die Ausstellungen rekrutieren sich vorrangig aus der Kunstsammlung der Unternehmerfamilie Eczacıbaşı. Dabei steht türkische Kunst der letzten 120 Jahre im Mittelpunkt. Aber auch zeitgenössische Hochkaräter aus aller Welt sind immer wieder zu Gast: Bis Februar 2025 könnt Ihr im Istanbul Modern beispielsweise eine Olafur-Eliasson-Schau erleben.
Über die Ausstellungen hinaus beherbergt das 15.000 Quadratmeter große Gebäude noch einiges mehr: Auditorien, ein Kino, eine von einer Flachwasserebene umgebene Aussichtsplattform auf dem Dach und ein Restaurant.
Tophane İskele Cad. 1/1, Karaköy. Di/Mi/Do/Sa/So 10–18 Uhr, Fr bis 20 Uhr. istanbulmodern.org
Museum für Malerei und Skulptur (İstanbul Resim Heykel Müzesi)
Auch für diesen Museumsbau in Nachbarschaft des Istanbul Modern zeichnete ein Stararchitekt verantwortlich: Emre Arolat. Er entwarf keinen kompletten Neubau, sondern ließ das Skelett einer ehemaligen Lagerhalle stehen, setzte eine Rasterfassade davor und steckte Kuben wie Container hinein. Nachts können diese effektvoll leuchten (wenn denn jemand das Licht einschaltet).
Im Innern erwarten Euch 37 Säle auf drei Etagen, die sich der türkischen Malerei und Bildhauerei widmen. Die Exponate entstammen der umfangreichen Sammlung der Mimar-Sinan-Universität der schönen Künste, die auch die Initiatorin des Museums ist. Die Werke umspannen einen Zeitraum vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Meclis-i Mebusan Cad. 6, Karaköy. Di 10–20 Uhr, Mi–So 10–17 Uhr. irhm.msgsu.edu.tr
Tophane-i Âmire
Auch die Kanonengießerei aus osmanischer Zeit schräg gegenüber dem Museum für Malerei und Skulptur wird von der Mimar-Sinan-Universität bespielt. Hier finden wechselnde Ausstellungen zu Kunst- und Architekturthemen statt, mal im Einkuppelsaal, mal im Fünfkuppelsaal.
Meclis-i Mebusan Cad. 6, Karaköy. Wenn Ausstellungen stattfinden, tägl. (außer Mo) 10–17 Uhr geöffnet. Eintritt frei. msgsu.edu.tr
SALT Galata
Die Galerie in einem ehemaligen Bankgebäude ist ein Kind der Garanti-Bank und gehört zu den Top-Ausstellungsorten der Stadt. Die hier gezeigten Schauen sind meist hervorragend, man arbeitet mit der Londoner Tate Modern zusammen.
Auch wenn keine Ausstellung läuft, solltet Ihr reingehen! Man kann frei durchs Gebäude spazieren und vom tollen Treppenhaus hinab in die Bibliothek gucken, die im Lichthof eingerichtet wurde – ein eindrucksvolles Fotomotiv. Außerdem gibt’s ein Café, eine Buchhandlung und auf dem Dach das mit einem Michelinstern geadelte neolokal mit spektakulären Ausblicken.
Bankalar Cad. 11, Galata. Tägl. (außer Mo) 11–18 Uhr. https://saltonline.org/
Depo
Die Galerie in einem alten Tabaklager ist offen für Künstler:innen vom Balkan, dem Nahen Osten und den Kaukasusrepubliken. Auch vor heiklen politischen Themen scheut man nicht zurück.
Gegründet hat die Galerie der zu lebenslanger Haft verurteilte Unternehmer, Mäzen und Menschenrechtsaktivist Osman Kavala. Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, die Gezi-Proteste 2013 organisiert zu haben und am Putschversuch 2016 beteiligt gewesen zu sein. PEN-Präsident Deniz Yücel nannte das Verfahren „eine reine Farce“, Claudia Roth sprach von einem „kafkaesken Verfahren“. Die Türkei missachtet bis heute das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur sofortigen Freilassung Kavalas.
Lüleci Hendek Cad. 12, Galata. Tägl. (außer So/Mo) 11–19 Uhr. Eintritt frei. https://www.depoistanbul.net/
Schneidertempel
Etwa 18.000 Juden leben noch in Istanbul, die meisten Synagogen der Stadt werden noch aktiv genutzt. Nicht so der Schneidertempel, der tatsächlich so heißt wie er heißt. Die Synagoge aus dem 19. Jahrhundert dient heute als Kunstzentrum.
Im Mittelpunkt stehen Karikatur- und Cartoon-Ausstellungen. Auch wer damit nicht so viel am Hut hat, sollte hineinschauen, das Innere ist sehenswert.
Felek Sok. 5, Galata. Tägl. (außer Mo) 11–18 Uhr. schneidertempel.org
İstanbul Sanat
Die sich nordwestlich an Karaköy und Galata anschließenden Viertel entlang dem Goldenen Horn erleben derzeit einen enormen Wandel. Die Industrietristesse schwindet, schicke Lofts und Grünanlagen lösen die alten Werftanlagen ab. Und Kunst kommt nun auch.
2024 weihte der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu das neue Kunstzentrum İstanbul Sanat im Stadtteil Kasımpaşa ein. Es belegt zwei Hallen der Haliç Tersanesi, einer noch aktiven Werft, in der die Bosporusfähren gebaut und gewartet werden. Eine spannende Angelegenheit, vom blassen Namen („Istanbul Kunst“) einmal abgesehen.
Haliç Tersanesi, Kasımpaşa. Tägl. (außer Mo) 10–19 Uhr. Eintritt frei. https://kultursanat.istanbul/
DIE İSTİKLAL CADDESI IN BEYOĞLU
Die İstiklal Caddesi im Stadtteil Beyoğlu, ein 1,2 Kilometer langer Schlauch, ist die Flaniermeile auf europäischer Seite. Hier schieben sich Tag und Nacht Menschenmassen aneinander vorbei, darunter viele Tourist:innen aus dem Nahen oder ferneren Osten, manche mit frisch gemachten Nasen, andere mit frisch transplantierten Haaren. Dazwischen sucht sich eine nostalgische rote Straßenbahn bimmelnd ihren Weg. Neben viel Kommerz gibt es an der İstiklal auch Kunst zu entdecken – wir zeigen Euch wo.
Galeri Zilberman und Galeri Nev im Mısır Apartmanı
Den prächtigen Jugendstilpalast Mısır Apartmanı ließ Abbas Hilmi Paşa, ein ägyptischer Prinz und zugleich Botschafter im Osmanischen Reich, im frühen 20. Jahrhundert errichten. Mısır ist der türkische Name für Ägypten. Im Mısır Apartmanı ging auch Atatürk später ein und aus. Atatürks Zahnarzt Sami M. Günzberg hatte hier seine Praxis.
Und heute? Heute gibt es hier neben Büros, einem spektakulären Treppenhaus und einem Dachterrassenlokal auch einige Galerien. Dazu gehört die → Galeri Zilberman, die einen Ableger in Berlin unterhält. Oft ruft sie sozialpolitische Kooperationen mit Galerien in Europa und aus dem Nahen Osten ins Leben. Eine andere Galerie im Haus ist → Nev, die bereits seit 1984 existiert.
İstiklal Cad. 303–305, Beyoğlu. Das Gebäude ist in der Regel tägl. von 10–18 Uhr zugänglich. Die Ausstellungen sind kostenlos.
Meşher
Meşher ist die kleine Schwester des großartigen Kunsthauses Arter in Dolapdere, von dem wir gleich noch erzählen werden. Auf vier Etagen präsentiert Meşher spannende Ausstellungen, zeitgenössische Kunst genauso wie Expositionen mit geschichtlichen Themen. Wir werfen immer einen Blick hinein, wenn wir auf der İstiklal unterwegs sind.
Hinter Meşher steckt die Vehbi Koç Foundation und hinter der Stiftung wiederum Vehbi Koç (1901–1969), ein Unternehmer und Philanthrop. Die Koç-Familie gilt als die reichste der Türkei. Ihre Stiftung ist im Gesundheitswesen, in der Kultur und Bildung aktiv.
İstiklal Cad. 211, Beyoğlu. Tägl. (außer Mo) 11–19 Uhr. Eintritt frei. https://www.mesher.org/
SALT Beyoğlu
Den faszinierenden Kunstort SALT Galata haben wir Euch bereits vorgestellt. Der Ableger in Beyoğlu ist kleiner, aber ebenfalls immer für eine Überraschung gut. Im Gebäude beeindruckt ein verdammt ästhetisches Kino:
İstiklal Cad. 136, Beyoğlu. Tägl. (außer Mo) 11–18 Uhr. Eintritt frei. https://saltonline.org
Casa Botter
Die Casa Botter wurde um 1900 als erstes Jugendstilgebäude Istanbuls errichtet. Damals hieß die İstiklal Caddesi noch „Grand Rue de Péra“ und war die Nobelmeile der vornehmen Europäer – mit französischen Patisserien, Cabarets und zahlreichen Theatern. In der Casa Botter hatte der holländische Hofschneider Jean Botter sein Atelier und Modegeschäft.
Nach umfangreicher Restaurierung durch die Stadt Istanbul dient das Gebäude heute als Ausstellungs- und Veranstaltungszentrum. So sieht es dort nun aus:
İstiklal Cad. 235, Beyoğlu. Tägl. (außer Mo) 10–19 Uhr. Eintritt frei. https://kultursanat.istanbul/
Museum für Malerei und Skulptur der İş-Bank (Türkiye İş Bankası Resim ve Heykel Müzesi)
Museen für Malerei und Skulptur gibt es so einige in der Stadt, das der Mimar-Sinan-Universität haben wir Euch schon vorgestellt. Seit 2023 hat auch die İş-Bank ein eigenes Museum voller Ölschinken und Skulpturen. Eingerichtet wurde es in einem prächtigen Stadtpalast, der bis 2016 als Bankfiliale diente.
In den oberen Stockwerken ist eine feste Ausstellung untergebracht, die Gemälde und bildhauerische Arbeiten türkischer Künstler:innen der letzten 150 Jahre zeigt. In den Etagen darunter ist genügend Platz für Wechselausstellungen, ein Café und einen Museumsshop.
İstiklal Cad. 144, Beyoğlu. Tägl. (außer Mo) 10–18 Uhr. https://issanat.com.tr/resim-heykel-muzesi/
Akbank Sanat
Gleiche Straße, andere Bank und anderes Kunstzentrum. Akbank Sanat zeigt frische junge Kunst und gerne auch Medienkunst – die kann mal spannend, mal erschütternd, mal schräg oder auch mal witzig sein. Angegliedert ist eine Kunstbibliothek.
İstiklal Cad. 8, Beyoğlu. Tägl. (außer So) 14–19 Uhr. Eintritt frei. https://akbanksanat.com
DOLAPDERE UND PIYALEPAŞA
Nördlich von Beyoğlu erstreckt sich Dolapdere, ein Arme-Leute-Viertel, in dem auch viele Zuzügler leben, Kurden aus dem Osten des Landes genauso wie Menschen aus Syrien oder Afrika. Doch auch in Dolapdere stehen die Zeichen auf Wandel. Neben Nobelhotels und Wohnblocks aus Glas und Stahl entstehen in Dolapdere mehr und mehr Galerien – Vorreiter war dabei das Kunsthaus Arter.
Der an Dolapdere angrenzende Stadtteil Piyalepaşa ist keiner zum Verlieben, ganz ehrlich. Eine mörderische Verkehrsschneise zerfetzt ihn. An dieser liegt auch der Piyalepaşa Çarşı, ein Hybrid aus Shoppingmall und Apartmentklotz. Steril und laut, aber schick. In dessen Dunstkreis siedeln sich immer mehr Galerien an.
Arter
Zückt den virtuellen Marker und malt Euch diese Zeilen fett an! Arter ist ein Kunst-Muss in der Stadt. Auch wer nur wenig Zeit mitbringt, sollte nach Dolapdere fahren.
Übrigens: In Nachbarschaft des Arter gibt es mit der Metzgerei → Kozmaoğlu den letzten Istanbuler Schweinefleischmetzger. Der Schinken ist hervorragend.
Das licht-filigrane Kunstzentrum der Vehbi Koç Foundation bespielt 18.000 Quadratmeter Fläche auf sechs Stockwerken. Die Architektur (verantwortlich: Grimshaw Architects aus London) ist ein Spektakel, von innen mehr als von außen.
Transparenz und Zugang für alle war den Auftraggebern wichtig. So besitzt das Arter riesige Panoramafenster, von denen die Besucher direkt ins Viertel blicken können, auf eng stehende Häuser, kleine Werkstätten und auf Wäsche an der Leine.
Stets gibt es mehrere hochkarätige Wechselausstellungen im Haus, die sich meist aus der Privatsammlung der Koç-Familie rekrutieren. Ein schönes Café versteht sich von selbst.
Irmak Cad. 13, Dolapdere. Tägl. (außer Mo) 11–19 Uhr. https://www.arter.org.tr/
Dirimart
Dirimart, gegründet 2002 und seit einigen Jahren ebenfalls in Dolapdere vertreten, gehört zu den bedeutendsten Istanbuler Galerien für zeitgenössische Kunst. Hier stellen Stars aus: Sarkis, Franz Ackermann, Karin Kneffel, Anselm Reyle usw.
Irmak Cad. 1–9, Dolapdere. Di–Sa 10–19 Uhr, So ab 12 Uhr. Eintritt frei. dirimart.com
Zilberman, Pi Art Works und Art Sümer
In und um den Piyalepaşa Çarşı haben sich jüngst einige Big Names der Istanbuler Galerienszene angesiedelt, die einen mit Dependancen, andere gar mit dem Hauptsitz. Dazu gehören → Zilberman (kennen wir bereits von der İstiklal Caddesi), → Pi Art Works oder → Art Sümer.
Uns gefällt Piyalepaşa überhaupt nicht. Was in den dortigen Galerien jedoch gezeigt wird, hat Niveau.
Piyalepaşa Bul. Die Ausstellungen sind kostenlos zu besichtigen und in der Regel tägl. (außer Mo) von 10–18 Uhr geöffnet.
AKSARAY UND EYÜPSULTAN
Die historischen Stadtteile Istanbuls auf der europäischen Seite sind nicht unbedingt erste Anlaufpunkte in Sachen Gegenwartskunst. Ein paar Ausnahmen gibt es aber doch.
Bulgur Palas
Aksaray gehört nicht gerade zu den feinsten Ecken der Stadt. Aksaray gilt als zwielichtig und als ein Stadtteil, den Istanbuler:innen, die etwas auf sich halten, eher meiden. Seit kurzem jedoch zieht es einen steten Strom an kunstsinnigen Menschen die Gassen hinauf auf einen der sieben Hügel des historischen Istanbuls.
Grund ist der Bulgur Palas, eine XXL-Villa aus dem Jahr 1912. Sie gehörte Bolulu Habib Bey, einem aus dem Hinterland der Schwarzmeerküste stammenden Händler, der durch den Vertrieb von Weizen schwerreich wurde. Der Volksmund nannte ihn „Bulgur Kralı“, „König der Weizengrütze“. Und seine Villa bekam den Spitznamen „Weizengrützepalast“.
2021 wurde die marode Villa von der Stadt Istanbul gekauft und im Rahmen des „IBB Miras“-Projekts in einen stilsicheren Ort verwandelt. Es gibt eine schöne Bibliothek, ein tolles Treppenhaus, ein Café, Blicke bis zum Marmarameer und gute Wechselausstellungen. Dabei stand zuletzt die Fotografie im Mittelpunkt, inklusive Bilder von Magnum-Fotografen.
Kargı Çıkmazı 5, Aksaray. Tägl. (außer Mo) 10–19 Uhr. Eintritt frei. https://kultursanat.istanbul/
Artİstanbul Feshane
Eyüpsultan ist das „heiligste Viertel Istanbuls“. Hier nämlich liegt der Legende nach Eyüp Ensari begraben, der sagenhafte Bannerträger des Propheten Mohammed. Wer in Eyüpsultan wohnt, ist stockkonservativ, trägt Schleier oder Käppchen. Und wer Eyüpsultan besucht, sieht meist ähnlich aus.
Dass ein Zentrum für Gegenwartskunst in diesem Teil der Stadt nicht jedem gefällt, war abzusehen. Bürgermeister Ekrem İmamoğlu ging das Wagnis ein und ließ die Feshane i-Amire, die Fesfabrik aus osmanischer Zeit am Ufer des Goldenen Horns, in ein Kunst- und Kulturzentrum umwandeln.
Doch schon die erste große Ausstellung im Jahr 2023 ging den zugeknöpften Bewohnern zu weit. „Starting from the Middle“ hieß sie, mit Hunderten von Werken internationaler Künstler:innen. Irgendjemand muss dort zuviel nackte Haut gesehen haben, denn schon bald ging es los mit wütenden Protesten, die schließlich auch in ein Ermittlungsverfahren mündeten. Die Vorwürfe: LGBT-Propaganda und „Gemälde mit sexuellem Inhalt“, die nicht zu den moralischen Werten der Türken passen würden.
Nişanca, Eyüpsultan. Tägl. (außer Mo) 10–19.30 Uhr. Eintritt frei. https://kultursanat.istanbul/
Santral Istanbul
Ebenfalls in Eyüpsultan, am nördlichen Ende des Goldenen Horns, befindet sich die Bilgi-Universität. Sie ist eine Oase der Offenheit in einem sonst bis unter die Augen verschleierten Stadtteil. Zu den Prinzipien der Hochschule gehören Toleranz sowie die Förderung von Kreativität und kritischem Denken.
Passend dazu wurde in einem stillgelegten E-Werk aus osmanischer Zeit ein spannendes Museum eingerichtet. Es ist eine Mischung aus Industriemuseum mit Science-Fiction-Atmosphäre aus alten Tagen sowie Megakunstgalerie. Als wir zuletzt da waren, fand leider keine Ausstellung statt, daher gibt es hier nur Fotos aus dem Museumsbereich.
Kazım Karabekir Cad. 2/20, Eyüpsultan. Tägl. 8.30–17 Uhr. Eintritt frei. Pass mitbringen! https://www.santralistanbul.org/en/
AM BOSPORUS
Borusan Contemporary im Perili Köşk
Einen der außergewöhnlichsten Orte für Gegenwartskunst in Istanbul kann man nur am Wochenende besuchen. Unter der Woche nämlich wird gearbeitet in der Zentrale der Borusan Holding, einem Konzern, der unter anderem in der Stahlherstellung, Energieerzeugung und der Logistik tätig ist.
Der Firmensitz befindet sich fast direkt am Bosporusufer im Stadtteil Rumeli Hisarı auf der europäischen Seite Istanbuls. Von außen ist das kitschig-märchenhafte Backsteinschloss nicht so unsere Einflugschneise. Errichtet wurde das so genannte Perili Köşk („Spukschlösschen“) im frühen 20. Jahrhundert als Residenz eines reichen Paschas am osmanischen Hof.
Die Büroräume im Inneren sind jedoch die Wucht. So würden wir auch gerne arbeiten, Ihr etwa nicht? Frei fliegt der Blick von vielen Schreibtischen über den Bosporus. Am besten gefallen uns die Arbeitsplätze in den Erkertürmchen. Die zweite Bosporusbrücke ist zum Greifen nahe.
In den unteren Etagen gibt es spannende Wechselausstellungen zu sehen. Die Büros des 4. bis 7. Stocks wiederum sind mit Exponaten aus der Kunstsammlung der Kocabıyık-Familie bestückt. Firmengründer Asım Kocabıyık (1924–2012) begegnet man sogar höchstpersönlich. Die hyperrealistische Skulptur stammt vom englischen Künstler Jamie Salmon und entstand 2017:
Auch auf der mit Kunst bestückten Dachterrasse können Besucher umherspazieren. Die Aussicht lässt einen schier aus den Latschen kippen. Was für eine Feierlocation!
Balta Limanı Hisar Cad. 5, Rumeli Hisarı. Nur Sa/So 10–19 Uhr. https://www.borusancontemporary.com/en/
Noch mehr Borusan: Die Borusan Holding unterhält an der İstiklal Caddesi 160A in Beyoğlu (siehe oben) eine Einraumgalerie und bespielt auch temporär immer wieder leerstehende Häuser oder Büros an anderen Orten der Stadt. Mehr Infos hier.
Çubuklu Silolar
Ganz großes Kino! Irre! Die Silos am asiatischen Bosporusufer im gleichnamigen Ort sind der mit Abstand extravaganteste Kunstort, den man in Istanbul besuchen kann. Eröffnet wurde er erst 2024.
Die 17 unterschiedlich großen Silos wurden in den 1930er-Jahren als Treibstoffdepots des staatlichen Mineralölunternehmens Petro Ofisi errichtet. Nach der Privatisierung von Petrol Ofisi wurden sie aufgegeben und rosteten bis zu ihrer wundersamen Transformation als Schandflecke am Bosporusufer vor sich hin.
Nun präsentieren sie sich als grandiose Mixtur aus Industriedenkmal und Ausstellungsort. Besonders beeindruckt waren wir von denjenigen Silos, die vom Museum für Medienkunst bespielt werden. Die Installationen, die wir sahen, waren überaus beeindruckend. Lasst Euch überraschen, die Ausstellungen wechseln.
Wer es in der Höhe aushält, kann die runden Metallriesen auch besteigen und herrlichste Bosporusblicke genießen. Bei unserem Besuch war das Wetter leider bescheiden. Kommt am besten im schönen Abendlicht!
Şehit Ersin Güner Cad., Çubuklu. Tägl. 10–22 Uhr. Eintritt frei. https://kultursanat.istanbul/
KADIKÖY
Müze Gazhane
Stichwort Istanbuler Biennale: Die nächste findet 2025 statt. Ausgestellt wird an vielen spannenden Orten, die sonst der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Mehr Infos hier.
Das ehemalige Hasanpaşa-Gaswerk aus dem 19. Jahrhundert befindet sich im asiatischen Hipsterstadtteil Kadıköy und passt dorthin wie der Deckel auf den Topf. Auf dem 32.000 Quadratmeter großen Areal gibt es ein paar Lokale und ziemlich viel zu sehen. Ein Museum beschäftigt sich mit dem Klimawandel. In anderen Bereichen wird Kunst gezeigt. Immer wieder finden kulturelle Events und kleinere Festivals statt. Außerdem wird die Gazhane von der Istanbuler Biennale bespielt. Unbedingt empfehlenswert!
Kurbağalıdere Cad. 125, Kadıköy. Die Ausstellungsbereiche sind in der Regel tägl. (außer Mo) von 10–18 Uhr geöffnet und kostenfrei. https://muzegazhane.istanbul/
PRINZENINSELN
Die Taş Mektep auf Büyükada
Last but not least besteigen wir eine Fähre und schippern zur Büyükada, der größten der sogenannten Prinzeninseln im Marmarameer vor Istanbul. Während des Osmanischen Reichs lebten hier vor allem Griechen, Armenier und Juden. So ist es kein Wunder, dass die Zahl der Kirchen, Klöster und Synagogen die der Moscheen übersteigt. An allen Ecken und Enden ist auf Büyükada (griechisch Prinkipo) der Geist der alten Zeit noch zu atmen.
Die Taş Mektep hoch über Büyükada-Stadt wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Sommerresidenz des orthodoxen Patriarchen Sofronios errichtet. 1922, nachdem neue Zeiten im türkischen Nationalstaat angebrochen waren, wurde aus der feudalen Villa eine Schule. Als solche diente das Gebäude noch bis in die späten 1970er-Jahre.
Jüngst wurde die Taş Mektep restauriert. Nun kann man in der schönen kleinen Bibliothek schmökern oder sich Ausstellungen anschauen.
Türkoğlu Sok. 2, Büyükada. Tägl. (außer Mo) 9–18 Uhr. Eintritt frei. https://kultursanat.istanbul/
Literaturtipp
Mehr Infos über viele der hier aufgeführten Kunstorte in Istanbul und über die Stadt als solches gibt es in unserem → Reiseführer, der im Michael Müller Verlag erschienen ist:
Mehr Istanbul hier auf dem Blog
- Istanbul für Fortgeschrittene: Besondere Orte abseits der Touristenpfade
- Alter Charme und neue Vibes: Die Istanbuler Viertel Balat und Fener
- Herr der Kuppeln: Baumeister Sinans Erbe am Bosporus
- Street Art in Istanbul: Tour durch Kadıköy auf der asiatischen Seite
- Vom Bosporus an die Spree: Mit dem Zug von Istanbul nach Berlin
Toller Artikel! Deine Beschreibung hat mich total inspiriert und ich habe jetzt richtig Lust, diese Reise selbst zu unternehmen. Die Fotos sind wunderschön und deine Tipps sind super hilfreich. Vielen Dank fürs Teilen deiner Erlebnisse – ich freue mich auf mehr!
Danke Tanja. Unseres Erachtens warst du ja schon in Istanbul. Vielleicht passen ja in deinen nächsten Bosporustrip ein paar unserer Kunstorte. Liebe Grüße, Gabi und Michael
Hallo ihr beiden,
ich reise alle 20 Jahre nach Istanbul, habe ich neulich mal festgestellt. Naja, zweimal bisher. Und natürlich lagen Welten zwischen dem ersten und dem zweiten Mal. 2026 wären mal wieder 20 Jahre rum, und dann werde all die tollen Museen und Galerien anschauen, die ihr vorstellt habt. Und natürlich euren Reiseführer kaufen ;-).
Liebe Grüße
Elke
Liebe Elke, dann wird es wieder Zeit, sogar besser früher als zu spät. In diesem Land muss man immer auf eine Überraschung gefasst sein (Putsch, Erdbeben, Terroranschlag), sodass man am besten startet, wenn die Stimmung mal einigermaßen gut ist. Das ist gerade der Fall. Viele Grüße, Gabi und Michael
Super interessant und sehr spannende Infos.
Hätte es den Artikel mal vor unserer Reise nach Istanbul im letzten Jahr gegeben.
Naja, jetzt speichern wir ihn für das nächste Mal ab! 🙂
Viele Grüße,
Nina
Danke Nina. Genau, nach Istanbul kann man ja durchaus öfters fahren und wird immer wieder ganz Neues erleben. Viele Grüße, Gabi und Michael
Hi!
Ich war schon zweimal in Istanbul aber bis heute wusste ich nicht, dass es so viele Art-Galleries in der Hauptstadt der Türkei gibt. Besonders spannend finde ich das E-Werk dass zum Museum umgewandelt wurde.
Danke für die zahlreichen Fotos und Eindrücke!
Beste Grüße,
Tom
Hallo Tom, ja, in Sachen moderne Kunst ist mittlerweile sehr viel los am Bosporus. Besonders spannend ist auch die Biennale (nächstes Mal 2025), wo man wirklich spannende Sachen an ganz ungewöhnlichen Orten sehen kann. Viele Grüße zurück, Gabi und Michael
Liebe Gabi und lieber Michael,
ein wirklich toller Beitrag. Istanbul wollte ich schon ewig mal besuchen und euer Betrag hat so richtig Lust darauf gemacht.
Ich wusste gar nicht, dass es dort so viel Kunst zu sehen gibt.
Danke auch für die vielen tollen Fotos.
Viele Grüße Sonja
Hallo Sonja, herzlichen Dank fürs nette Feedback. Ja, nach Istanbul sollte man unbedingt mal, und gerade ist es politisch wieder vergleichsweise ruhig in der Türkei. Eine gute Zeit also, mal hinzufahren. Viele Grüße, Gabi und Michael
Super interessant und hilfreich, die einzelnen Kunststätten zusammenzufassen 🙂
Ich war noch nicht in Istanbul, möchte aber unbedingt einmal hin. Gerade erst war ein Freund von mir mehrere Wochen dort und schwärmte sehr davon. Das ein oder andere werde ich mir für meinen künftigen Besuch sicherlich herauspicken, als Mediengestalterin finde ich solche Orte immer toll. Besonders spannend finde ich ja das Zentrum für Gegenwartskunst im besagten Stadtteil und die Geschichte dazu.
Viele Grüße!
Liebe Jess, freut uns, dass du mit dem Artikel etwas anfangen konntest. Es lohnt sich wirklich, mal ein paar Schritte rechts und links der klassischen Sehenswürdigkeiten zu laufen und dort genau diese Orte kennen zu lernen. Und es werden ständig mehr. In Istanbul passiert in Sachen Kunst zur Zeit wieder einiges.
Viele Grüße von Gabi und Michael