„Darf man nach Indien fahren, wenn man nicht auf Yoga und Ayurveda steht? Ja, man darf!“
(Gabi und Michael, 2017)
Halbwissen mit Curry. Mehr hatten wir in Sachen Indien vor unserer Reise nicht auf Lager. Nach unserer Reise waren wir nicht schlauer. Eher das Gegenteil. Aber immerhin haben wir mal reingeschnuppert in dieses riesige Land. In dieses Land der Kontraste.
Neun mal so groß wie Deutschland. Wo auf einem Quadratkilometer 180 Menschen mehr leben als bei uns. Wo großer Reichtum in großer Armut untergeht. Wo Hindus, Moslems, Christen, Sikhs, Buddhisten, Jainas und Zoroastrier für einen bunten Glaubensmix sorgen. Wo noch Hexen verfolgt werden. Und wo es Leute gibt, die keiner Fliege was zu Leibe tun. Wo man ohne Drogenrausch im Farbrausch landet. Wo mehr Softwareingenieure sitzen als irgendwo anders in der Welt. Wo die Pharmaindustrie in Abwässern resistente Keime züchtet. Und wo man zuweilen hintelefoniert, obwohl man nur ein Call-Center anruft. Ewig könnte man die Liste des Halbwissens weiterführen.
Indien ist ein Land, das neugierig macht. Immer wieder wollten wir da mal hin. Nur der Entschluss dahin zu reisen, ließ auf sich warten. Schließlich gab es auch ein wenig Abneigung: Muss man in ein Land fahren, das ein Kastenwesen pflegt (auch wenn es auf dem Papier abgeschafft wurde)? Und will man an eine Küste fahren, über die ein erfahrener Indienreisender uns einmal sagte: „Wo keine Hotels sind, kannste nicht an den Strand, denn dort dient der Strand als Toilette.“
Und es gab noch andere Bedenken: Im Gegensatz zu Gabi, die die indische Küche liebt (zumindest die, die sie bis dato in Europa kennengelernt hatte), kann Michael nichts damit anfangen. Er hasst Koriander und findet weißen Reis einfach nur stinklangweilig. Doch was sollte passieren: In → Goa aß er die beste Rinderzunge seines Lebens. Verkehrte Welt, ach du heilige Kuh!
Südindien mit dem Rucksack – unsere Route
Wir starteten in Kovalam ganz im Süden Indiens im Bundesstaat Kerala und hatten einen Monat Zeit, um von dort nach Mumbai zu gelangen, von wo wir wieder heimflogen. So etwa 1400 Kilometer Küstenlänge lagen vor uns. Das hört sich nach einer ganz schönen Strecke an. Bei einem kurzen Blick auf die Karte wird aber deutlich, wie wenig wir von Indien sahen:
Inhaltsverzeichnis
Kovalam: Beach-Kommerz unterm Leuchtturm
Trivandrum: Ausflug in den Alltag
Backwaters: Bootstrip durchs Hinterland von Kerala
Kochi zum Ersten: Kunst gucken bei der Biennale
Kochi zum Zweiten: Altstadt und jüdisches Viertel
Gokarna: Kuhle Strände und ein kunterbunter Pilgerort
Von Gokarna über Hampi nach Goa und dann nach Mumbai
Mumbai für Hipster: Kala Ghoda
Mumbai schrill und laut: Victoria Terminus und Crawford Market
Kovalam: Beach-Kommerz unterm Leuchtturm
How is cold?“,hat ein junger Engländer in großen Lettern in den Sand von Kovalam geschrieben. Wie Kälte geht, wissen wir. Wir sind gerade erst dem Berliner Winter entflohen. Kovalam, ein temperamentvoller Badeort, bildet die Ouvertüre unserer „India Light“-Reise.
Der Hauptstrand, der Light House Beach, ist bestens belegt. Auf einem Hügel darüber der namengebende Leuchtturm, dahinter ein Saum von Hotels aus feinstem Beton. So hatten wir uns den ersten Strand nicht vorgestellt. In einem Café entdecken wir nostalgische Fotos eines Kovalams, wie es Reisende der späten 1990er Jahre noch antrafen: eine paradiesische Sandsichel mit vereinzelten Hütten unter Kokospalmen. Derjenige, der uns Kovalam ans Herz gelegt hatte, war wohl schon länger nicht mehr hier…
Auf der Uferpromenade flanieren indische Touristen und Pauschalurlauber aus aller Herren Länder vorbei an Souvenirläden und Restaurants, die allabendlich verlockende Fischvitrinen aufbauen. Aber die Preise sind happig: Auf etwa 30 Euro kommt ein Fischessen für zwei Personen. Das ist etwa ein Viertel des indischen Durchschnittslohns im Monat. Für die reichen Inder kein Problem. Die Traveller mit schmalem Geldbeutel hingegen machen mittlerweile eher einen Bogen um Kovalam.
Zum Glück steht unser ramponiertes, völlig aus der Zeit gefallenes Hotel an einer ruhigen Nebenbucht mit mehlfeinem, hellgrauem Sand. Meerblick satt. Die Brandung rollt nachts mit einer Wucht heran, dass sie jedes Schnarchen übertönt. Wir können das Hotel leider nicht mehr empfehlen. Kurz nach unserem Aufenthalt wurde es verkauft und generalsaniert.
Sich den Ort ein wenig schöner zu trinken, ist gar nicht so einfach. Kerala ist ein konservativer Bundesstaat, der in Sachen Alkohol und Zigaretten nicht mit sich spaßen lässt. Drei Euro (!) Strafe stehen zum Beispiel auf das Rauchen einer Zigarette in der Öffentlichkeit.
In den meisten Restaurants ist der Ausschank von Alkohol offiziell verboten. Inoffiziell aber süffelt man sein Kingfisher-Bier aus riesigen Kaffeepötten, die Comicfiguren und Vereinslogos zieren, während die Flaschen zum Nachschenken in Zeitungspapier gewickelt unter den Tischen stehen.
Trivandrum: Ausflug in den Alltag
Kingfisher-Bier schmeckt im Abgang ein wenig nach Tankstelle. Uns steht eher der Sinn nach einem kleinen Gin Tonic zum Sonnenuntergang. In Kovalam nicht so einfach aufzutreiben. Wir fahren mit der Rikscha in die nahe Hauptstadt Keralas, nach Thiruvananthapuram, und versuchen dort unser Glück. Thiru-was? Nochmal zum Nachsprechen:
Thi|ru|van|an|tha|pu|ram.
Dass wir auf unserer Reise durch Südindien überhaupt stets dort ankamen, wo wir auch hinwollten, grenzt in Anbetracht so manch unaussprechlicher Städtenamen an ein Wunder. Die sollte man mal nach Höhenkirchen-Siegertsbrunn schicken, die Inder!
Dabei hatte Thiruvananthapuram bis vor gar nicht langer Zeit noch den auf der Zunge zergehenden Namen Trivandrum. Um sich von seinem kolonialen Erbe zu lösen, wurden in Indien in den letzten Jahrzehnten etliche Städte umbenannt. Dass aus Bombay Mumbai wurde oder aus Kalkutta Kolkata, das lassen wir uns ja noch eingehen. Aber bitte schön: Thiruvananthapuram? Wir lassen es bei Trivandrum.
Andere Touristen fragen in der Touristeninformation nach den örtlichen Sehenswürdigkeiten, wir nach dem nächsten Liquor Store. Ein ausnehmend freundlicher Herr beschreibt uns den Weg zu einem nach Urin und Erbrochenem stinkenden Hinterhof, in dem düstere Gestalten mit der Flasche Rum unterm Lungi davonschleichen. Nicht das schönste unserer Reiseerlebnisse, aber erfolgreich. Falls Ihr auch zum Sonnenuntergang einen Schnaps wollt, hier müsst Ihr Ausschau halten:
Kerala leistet ganze Arbeit, seiner Bevölkerung den Alkoholkonsum so richtig madig zu machen, wie wir auch später noch feststellen werden. Die einzigen offiziellen Kneipen nennen sich „Wine & Beer Parlour“ und sind schrecklich ungemütliche Anhängsel größerer Mittelklassehotels. In kargen, stillen Räumen sitzen dort Männer alleine vor ihrem Bier. So dunkel ist es, dass man die Hand kaum vor Augen sieht – schließlich will man beim sündigen Treiben nicht erkannt werden.
Trivandrum wird in unserem Reiseführer als „eine für indische Verhältnisse ausgesprochen geruhsame Stadt“ beschrieben. Als Indienneuling fragt man sich, wie denn die ungeruhsamen aussehen…
Auf den Straßen rattert und knattert es. Augen und Ohr fahren Karussell, als wir durch den kunterbunten Chalai Bazaar spazieren. Männer flechten Blumenketten aus Tagetes, Rosen und Yasmin, traditionelle Opfergaben. Sonnenschirme für die Elefantenprozessionen werden verkauft. Zwei Schaufensterpuppen tragen oben herum Tuniken mit Che Guevara darauf, unten Pyjamahosen mit Hirsch-Illustrationen. Kitsch wird in diesem Land schamlos ausgelebt – wir lieben es.
Mittags essen wir unser erstes Thali in einem einfachen Restaurant. Auf einem Bananenblatt stehen Schälchen mit verschiedensten Süppchen, Curries und Sößchen: Unter anderem Okraschoten, eine klare scharfe Suppe mit Ingwer und Tomaten, Yoghurt und ein süßer Graupenbrei. Dazu viel Undefinierbares.
Unsere Nachbarn kippen alles zusammen auf den Reisberg in der Mitte, mischen mit den Fingern einen Brei zusammen und formen im Anschluss matschige Reisbällchen daraus, die sie sich in den Mund schieben. Wir sind froh, einen Plastiklöffel bekommen zu haben.
Varkala: Strand voller Urnen
Zeit für unsere nächste Station! Wir nehmen den Zug nach Norden, rund 60 Kilometer sind es bis zum Strandort Varkala. Wir sind fast allein in diesem abgetakelten Gefährt.
Dabei hatten wir ganz andere Bilder von indischen Zügen im Kopf. Solche, in denen sich Hunderte von Menschen an die Außenseite eines rappelvollen Zuges klammern, nebenher rennen und obenauf sitzen – ganz, als würden Ameisen versuchen, einen toten Wurm wegzutragen. Fliegende Händler verkaufen im Zug Samosas, süße Kuchen und Hüllen für den Personalausweis.
Der baumlose Strand von Varkala erstreckt sich unterhalb mächtiger roter Klippen. Klingt zunächst ganz nett, entpuppt sich vor Ort aber als Enttäuschung. Das Terrain oberhalb der Klippen ist völlig zugebaut, Wellblechhütten stehen neben Motels, Bungalowanlagen neben mehrstöckigen Schandflecken. Der Müll der Restaurants und Hotels trielt hier und da die Klippen hinunter, von der toten Katze bis zur Plastikflasche.
Varkala ist zweigeteilt. Der nördliche Bereich (North Cliff) gehört den westlichen Touristen. Sie liegen in der Sonne, kiffen, spielen Frisbee oder machen Yoga – die einen reinweiß gekleidet, die anderen mit String im Knackarsch.
Der südliche Abschnitt hingegen ist frommen Hindus vorbehalten. Seit Urzeiten pilgern sie an den Strand von Varkala, um die Asche verstorbener Angehöriger dem Meer zu übergeben. Wer gegen sechs Uhr morgens da ist, kann dieses Ritual beobachten.
Ganze Familien, die meisten in weiß-orangefarbene Tücher gekleidet, tragen kleine rechteckige Urnen über dem Kopf, gehen über den Strand zum Meer, drehen sich dort und werfen die Urnen hinter sich ins Wasser. Wer am Abend den Strand entlang joggt, muss hier und da einer Urne ausweichen.
Backwaters: Bootstrip durchs Hinterland von Kerala
Machen Inder eigentlich auch Yoga?“, fragen wir unseren Taxifahrer, der uns von Varkala nach Kollam bringt, wo wir ein Boot besteigen werden, um durch die Backwaters zu tingeln. „No time for that!“, heißt die lapidare Antwort.
Die Backwaters. Ein nasses Labyrinth aus Seen, Kanälen, Flüssen und Bächen zieht sich vorbei an dichter tropischer Vegetation und kleinen Siedlungen über eine Strecke von 75 Kilometern von Kollam hinauf nach Kochi. Es ist eine idyllische Zauberwelt, die sich einem ausschließlich vom Wasser erschließt.
Manche Touristen lassen sich hier tagelang auf Hausbooten durch die Gegend treiben. Andere wie wir entscheiden sich für eine der täglichen Fähren zwischen Kollam und Alleppey. Rund acht Stunden schippern wir mit zehn anderen Touristen durch die amphibische Landschaft, 500 Rupien kostet der Spaß, umgerechnet knapp 7 €.
Es ist eine meditative Reise – würden nicht die nerven, die am meditativsten drauf sind. Karla aus Deutschland zum Beispiel. Mitte vierzig, verklärter Blick, Pumphose, Glitzertunika. Karla sucht das Gespräch mit uns. Sie sei auf dem Weg ins Ashram von Amma, das wir auf der Bootsfahrt passieren würden. „Noch nichts von ihr gehört?“ Amma, der weibliche Schmuseguru, der täglich mehrere Tausend Anhänger umarmt. Über 33 Millionen Menschen hat Amma bereits in aller Welt umarmt. Wenn Amma in Deutschland Station macht, findet man die Tourdaten auf www.amma.de.
„Wirklich, Ihr kennt Amma nicht?“
Amma, die eigentlich Mata Amritanandamayi heißt. Amma, die Gründerin des Gandhi-King-Friedenspreises und des Hilfswerks → Embracing the world. „Auch davon noch nichts gehört?“ Karla ist entsetzt von uns. Nachdem sie sich schon einmal von Amma hatte umarmen lassen („Noch nie habe ich soviel Liebe gespürt!“) will Karla nun aufs Ganze gehen und einige Tage bei Amma verbringen. Amma, sorry Karla, singt ein Mantra, filmt sich dabei und steigt aus.
Hinweis: Einen spannenden langen Artikel über Leben und Realitäten im oft verklärten Ashram von Amma hat Rochssare vom Bloggerduo Morten & Rochssare geschrieben. Er ist hier nachzulesen.
Wir können uns wieder auf die Landschaft konzentrieren. Eiscremefarbene spitztürmige Kirchen ziehen an uns vorüber, rote und rostbraune Fischkutter, einstöckige Häuser in Türkis, Gelb und Pink. Frauen hängen Wäsche zwischen Kokospalmen auf. Ein Seeadler sitzt auf einem Mast. Wir durchfahren einen Teppich aus Seerosen mit weißen Vögeln darauf. Dazwischen Armadas von Riesenquallen, auch sehen wir das Gedärm einer ausgenommenen Ziege im Wasser schwimmen. Kinder planschen daneben. Den Plan, am Abend Backwaters-Fisch zu essen, verschieben wir auf den Nimmerleinstag.
Kochi zum Ersten: Kunst gucken bei der Biennale
Die Kolonialstadt Kochi, oder besser gesagt, die auf einer Landzunge zwischen den Backwaters und dem Arabischen Meer gelegenen alten Stadtteile Fort Cochin und Mattancherry nehmen uns mit offenen Armen auf. Sie lächeln uns an, wir zurück.
Die Zeit unseres Besuchs hätten wir nicht besser wählen können: Kochi gilt als Zentrum zeitgenössischer Kunst und wir schlagen genau zur spektakulären → Kunstbiennale auf.
Die Stadt bietet sich mit all ihren maroden Gebäuden für exzentrische Ausstellungsflächen nur so an. Wir kaufen uns erdbeerrote Biennale-T-Shirts mit der Aufschrift „Without art there would be violence“ und laufen mit Kinderaugen durch verfallene Lagerhallen samt Installationen und Projektionen, vorbei an pfiffiger Streetart und Pop-Up-Stores mit den Produkten indischer Nachwuchsdesigner. Teilweise muss man nur die Straßenseite wechseln, um einem neuen Hingucker gegenüber zu stehen.
Der chilenische Dichter und Künstler Raúl Zurita flutete für seine Installation Sea of Pain eine Lagerhalle knöchelhoch mit Meerwasser. Wer hindurchwatet, kann am Ende der Lagerhalle einen Brief an Galip Kurdi lesen. Galip Kurdi ist der Bruder Alan Kurdis, des dreijährigen Flüchtlingsjungen, dessen Foto um die Welt ging, als er am 2. September 2015 tot am Strand der türkischen Ägäisküste angespült wurde:
Kochi zum Zweiten: Altstadt und jüdisches Viertel
Doch die Kunst ist nicht der einzige Grund, der Tausende von Besucher auf die Kochi-Landzunge zieht. Google spuckt auch andere Bilder aus. Das fotogene Wahrzeichen der Stadt sind die riesigen chinesischen Fischernetze am Hafen. Auch wir drücken auf den Auslöser und flipfloppen danach die Uferpromenade entlang. Kaufen frisch gepressten Zuckerrohrsaft und entdecken Stände mit Sindur. Das rote Pulver zeichnet für die roten Punkte auf der Stirn vieler Inderinnen verantwortlich:
Danach spitzen wir in die schöne Kirche des hl. Franziskus vom Beginn des 16. Jahrhunderts, der ersten von Europäern errichteten Kirche auf indischem Boden. Ein schlichter Grabstein erinnert darin an den legendären portugiesischen Seefahrer Vasco da Gama, der 1524 an einer „Infektion der Nackenregion“ in Kochi verstarb.
Des Weltumseglers Gebeine wurden allerdings schon kurze Zeit später nach Portugal überführt. Wie in allen indischen Kirchen sind wir barfuß unterwegs. Neben uns erklärt eine Reiseführerin ihrer deutschen Gruppe den Sinn und Zweck der langen Stoff-Holz-Konstruktionen über den Kirchenbänken. Es sind Fächer. Während die Kolonialherren in der Kirche beim Gebet saßen, bewegten Inder von außen die an Holzstäben befestigten Stoffbahnen per Seilzug und fächelten so der Gemeinde Luft zu:
Neuer Tag, neue Eindrücke. Ein langer Spaziergang führt uns ins einstige jüdische Viertel. Es ist eine Mischung aus leprösen Häusern mit charmanter Räudigkeit und hübsch sanierten Gebäuden, die von einem neuen Wohlstand künden, einer Gentrifizierung im Frühstadium.
Dazwischen sieht man ehemals prachtvolle Stadtpalais aus der Kolonialzeit, die nur noch aus ihrer Fassade bestehen, Dächer fehlen, Fenster- und Türrahmen hängen in den Angeln, die Kanalisation liegt offen. Durch die engen Straßen quetschen sich quietschbunte Busse und Laster mit Ölfässern:
Aus dunklen Höhlen werden Zwiebeln, Mehl, Tee, Tabak und Gewürze verkauft, die Preise sind mit Kreide auf Schiefertafeln geschrieben. Hier und da: lässige Restaurants, poshe Hotels und, nahe der hübschen kleinen Synagoge aus dem 16. Jahrhundert, riesige Antiquitätenläden. Ewig könnte man stöbern: Kleinkram, Spiegel, Götter in allen Variationen, christliche Heiligenfiguren. Würden wir in einem Palast wohnen, hätten wir uns für ein antikes Ruderboot entschieden.
Gokarna: Kuhle Strände und ein kunterbunter Pilgerort
Die Räder schlagen rhythmisch auf den Gleisen, von Zeit zu Zeit pfeift der Schaffner. Wir sitzen wieder im Zug, ein langer Trip dieses Mal. Um 21.30 Uhr am Abend steigen wir ein, um am nächsten Tag gegen Mittag unser nächstes Ziel zu erreichen: Gokarna, Luftlinie etwa 500 km weiter nördlich an der Küste.
Die bequeme Liegewagenfahrt in der ersten Klasse wäre noch bequemer, müssten wir nicht nachts um vier Uhr in Mangalore umsteigen, um bis zum Morgen auf einen Anschlusszug zu warten.
Das Taxi vom Bahnhof Gokarnas zum rund zehn Kilometer entfernten Kuddle Beach teilen wir uns mit einem jungen Israeli:
„Gokarna is full of Israelis“,
weiß er. Dito. Auf den Speisekarten Hummus, Falafel und Shakshuka, Hebräisch scheint die Lingua Franca am Strand zu sein. Aber nicht nur israelische Neo-Hippies hausen hier in den windschiefen Bambushütten unter Kokospalmen, sondern auch junge nussbraune Zottelfritzen aus aller Welt. Wer etwas auf sich hält, trinkt Bhang Lassie, einen Shake aus Yoghurt, Gewürzen und – ja – Cannabis. Es gibt aber auch Bier. Und vieles mehr am attraktivsten Strand, den wir auf dieser Reise sehen werden, einem weißen Sandband ohne Hässlichkeiten.
Neben den Freaks nennen auch rund ein Dutzend schwarze Kühe mit schön geschwungenen Hörnern den Strand ihre Heimat. Ihnen geht es in Gokarna wie Gott in Indien. In der Mittagshitze liegen sie faul im Schatten, am späten Nachmittag tun sie es den vielen Schmuckverkäuferinnen nach, laufen zwischen den Liegetüchern umher und nerven die, die darauf liegen. Die ganz frechen unter ihnen tragen Rucksäcke in ihren Mäulern spazieren, zur Belustigung aller, denen der Rucksack nicht gehört.
Zum Sonnenuntergang noch ein wenig später wird der Strand zur Bühne. Dann kriechen die rastabezopften Adonisse und Aphroditen aus ihren Hütten, trommeln und didgeridooen bei Kerzenlicht am Strand, verkaufen Mokka und Chai Latte. Die einen jonglieren, die anderen machen einhändig Kopfstand – Hochzeit der Selbstdarsteller und ein entspanntes Spektakel für Zaungäste:
Rund eine halbe Stunde läuft man vom Kuddle Beach zum Om Beach, der wiederum aus zwei halbmondförmigen Buchten mit etwas grobkörnigerem Sand besteht – auch sehr schön, aber ganz anders. Am Wochenende sind die Buchten voll mit jungen Indern aus den nahen Städten, die hier Bier picheln, gut essen und den Strand entlang flanieren.
Apropos Inder! Auf die trifft man zudem im eigentlichen Städtchen Gokarna, das man fußläufig vom Kuddle Beach in rund 20 Minuten erreicht. Am Strand des schön gelegenen Küstennests soll der vedische Gott Rudra aus dem Ohr einer Kuh (!) wiedergeboren sein. Grund genug für einen steten Strom an Pilgern, die hier barfüßig vom Strand zum Ort und durch die verschiedensten Tempel stromern oder ein Bad im heiligen Teich nehmen.
Seit sich Touristen in den heiligen Stätten immer wieder völlig daneben benommen haben, sind die Tempel für selbige verschlossen. Ist uns verständlich. Dass aber Anwohner ihren Müll in die heiligen Teiche kippen, gar während einer drin badet, ganz und gar nicht.
Wie dem auch sei. In dem Städtchen gibt es genug zu gucken: Mit Holzperlenketten geschmückte Kühe laufen durch die Straßen, werden getätschelt und mit Currys gefüttert. Und aus kunterbunten Läden (eigentlich mehr Schränke als Läden) wird allerhand Schnickschnack verkauft.
Von Gokarna über Hampi nach Goa und dann nach Mumbai
Von Gokarna ging es für uns weiter in die Tempelstadt → Hampi im Landesinneren und von dort zurück an die Küste nach → Goa. Zu beiden Destinationen haben wir eigene Beiträge geschrieben.
Von Goa wollten wir eigentlich mit dem Zug weiter nach Mumbai, nur konnten wir kein Ticket ergattern. Auf den Bus hatten wir keine Lust (mindestens zwölf, bis zu 18 Stunden Fahrtdauer). So nahmen wir den Flieger.
Mumbai, die Einleitung
Dass wir der über 12 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt des Bundesstaats Maharashtra nur zwei Tage widmen, hat vor allem einen Grund: unser Reiseführer. Der beginnt bei der Beschreibung der Stadt mit einem sinngemäß übernommenen Zitat Aldous Huxleys. Laut Huxley soll es auf keine der beiden Erdhalbkugeln eine entsetzlichere Stadt geben als Bombay. Nix schöne neue Welt. Und es wird noch kräftig nachgelegt. O-Ton Reiseführer:
„Viele Reisende betrachten ihren Aufenthalt in Mumbai als Erfahrung, bei der es eher ums nackte Überleben als ums Genießen geht.“
Wir sagen: QUATSCH. Heute würden wir mehr Tage für Mumbai einplanen. Aber zum Glück gibt es ein nächstes Mal. Dann werden wir ins Chhatrapati Shivaji Museum (ehemals Prince of Wales Museum) gehen und unter der mächtigen Kuppel an der beeindruckenden Sammlung indischer Malerei vorbeispazieren.
Wir werden zur Insel Elephanta übersetzen und ihren spektakulären Höhlentempel besuchen. Wir werden uns zum größten Open-Air-Waschsalon der Welt kutschieren lassen, wo rund 5000 Männer aus der Kaste der Wäscher für die reinweißen Betten der Touristenhotels sorgen. Wir werden ins Kino gehen und uns eine Bollywood-Schnulze reinziehen. Wir werden essen, essen, essen. Auf der Straße, auf einer noblen Dachterrasse oder in einem altmodischen Parsi-Kaffeehaus.
Und wir werden an einer → Lach-Yoga-Sitzung teilnehmen: Mit Singsang-Lachen, Löwen-Lachen, Milchshaketrink-Lachen und so fort. Nur dass die Lachsessions zwischen sechs und sieben Uhr morgens starten, ist nicht zum Lachen. Aber hört mal rein:
Mumbai für Touristen: Colaba
Wir wohnen da, wo (fast) jeder Tourist wohnt: Im historischen Stadtteil Colaba ganz im Süden der Stadt-Halbinsel. Im einfachen, aber sauberen Hotel The Strand fast direkt am Meer, auf einem Niveau, für das wir rund das Dreifache zahlen wie anderswo an der Küste.
Unsere Nachbarn, nicht unsere Zimmernachbarn, sondern die in den Häusern nebenan, gehören zur Beletage der indischen Gesellschaft. Sie leben in schicken Altbaupalästen mit Kronleuchtern und Blick auf Meer und baumbestandene Alleen, in denen fette Autos parken. Sie essen Sushi in minimalistischen Szenelokalen oder trinken ein Feierabendbier bei uns auf der Dachterrasse. Small Talk mit dem Pärchen rechts von uns: „Next year we will spend our holidays in Croatia,“ erzählt es uns, „just to see something different.“
In Spuckweite zu unserer Unterkunft befinden sich das imposante, stets umwuselte Gateway of India, Mumbais Arc de Triomphe, und daneben das Fünf-Sterne-Hotel Taj Mahal Palace & Tower. Was für eine Luxusfestung, glamourös und übermanikürt. Eröffnet wurde das Hotel im Jahr 1903 als steingewordener, an die Kolonialisten gerichteter Stinkefinger. Erbauer Jamsetij Nasarwanji Tata, ein schwerreicher parsischer Industrieller, rächte sich damit an der demütigenden „Whites only“-Türpolitik der britischen Hotels.
Heute wohnen hier all jene, die rund 400 Euro für ein Zimmer ausgeben wollen oder können. Alle anderen (wie wir) dürfen zumindest im Erdgeschoss des Bling-Bling-Palastes herumspazieren, vorbei an Läden, die Montblanc-Kugelschreiber oder Dior-Klamotten verkaufen.
In die internationalen Schlagzeilen geriet das Hotel bei den entsetzlichen Anschlägen von 2008, bei denen es drei Tage lang von muslimischen Terroristen belagert wurde. Auch andere Orte in der Stadt wurden angegriffen, 166 Menschen starben.
Ein Ziel war auch das Touristenlokal Leopold Café ums Eck. Laut, eng und feuchtfröhlich ist es dort heute wieder. Wir trinken einen großen Humpen Bier, essen Malai Kofta und Fried Noodles und blicken dabei auf all die Einschusslöcher, die bewusst nicht wegrestauriert wurden. Acht Menschen mussten hier ihr Leben lassen.
Mumbai für Hipster: Kala Ghoda
Mumbai, das ist auch ein bisschen wie London in den Tropen. Die Hitze liegt wie eine Decke über der Stadt, als wir zum großen Sightseeingprogramm aufbrechen. Wir starten mit einem kühlen Getränk im hippen Stadtteil Kala Ghoda, wo Mumbai einmal wieder mehr zeigt, dass es auch Luxus kann – und zwar ordentlich! Trendige Coffeeshops, Galerien und Concept Stores haben sich in den alten Kolonialbauten niedergelassen. Hipster sitzen bei Latte Macchiato und New York Cheese Cake und plaudern über die letzte Vernissage.
Mumbai schrill und laut: Victoria Terminus und Crawford Market
Wir laufen los, vorbei an spektakulären viktorianischen Bauten wie dem Mumbai High Court (1878) mit seinen riesigen Steildächern. Vorbei an der Mumbai University (1857), dessen Architekt Sir Gilbert Scott auch für den Bahnhof St. Pancras in London verantwortlich zeichnete. Vorbei an der St. Thomas Cathedral (1718 eingeweiht) mit ihrem wilden Architekturmix.
Und schließlich hinein in den Bahnhof Chhatrapati Shivaji Terminus, der bis vor wenigen Jahren noch Victoria Terminus hieß. Ein durchgeknalltes, eklektizistisches Durcheinander an Kuppeln, Türmen, korinthischen Säulen, Minaretten und Skulpturen, an dem man sich gar nicht sattsehen kann. Der Bahnhof ist eine Kathedrale der Fortbewegung, deren filigrane Säulen rund zwei Millionen Passagiere täglich passieren.
Auf dem Weg zum Crawford Market im Central Bazaar District holt uns Mumbaier Alltag ein. Kuschelig ist hier nichts mehr. Hier brodelt, zischt und siedet die Metropole. Wir werden zu winzigen Teilen eines menschgewordenen Ameisenhaufens, der in alle Richtungen wuselt. Für all die Ziellosen und jene, die ihr Ziel kennen, für die beinlosen Krüppel auf Rollplattformen, für all die Hunde, Verkäufer und Handwagen reicht kein Gehweg mehr. Neben, vor und hinter uns hupen geschätzt hundert Mopeds gleichzeitig. Uns klingeln die Ohren, und kurzzeitig möchte man einfach nur noch schreien:
„Ich will nach Hause!“
Hat man den Crawford Market erreicht, wird es ruhiger. Der in einer historischen Halle untergebrachte Markt und seine Seitengassen entschädigen für die kakophonische Tortur. Ein Fest der Farben und Gerüche.
Händler schlafen auf Tomatenhaufen, aus den Gewürzläden duftet es nach Kardamon, Nelke und Safran. Muslime mit rot gefärbten Bärten verkaufen die wohl größten Papayas dieses Planeten. Kulis laufen mit gefüllten Bastkörben auf dem Kopf umher oder stehen da, rauchen und betteln um Auftrag. Eine Gasse geht fast unter in einem Meer aus bunten Plastikblumen:
Anderswo warten Golden-Retriever-Welpen, Katzen, Hühner, Papageien, Tauben und Karnickel auf künftige Herrchen, Frauchen oder Verzehrer. Am Straßenrand lassen sich Männer von professionellen Ohrenausputzern mit gebogenen Drähten die Löffel ausputzen.
Auf dem Rückweg sehen wir eine Bettlerin am Straßenrand sitzen. Wir wollen ihr ein paar Münzen geben. Sie lehnt ab, bestimmt, aber nicht unfreundlich. Wir können sie nicht verstehen und eine Passantin übersetzt: „Sie braucht für heute kein Geld mehr. Die 100 Rupies, die sie in der Hand hält, reichen ihr für einen Tag.“ 100 Rupien sind umgerechnet 1,32 Euro. 500 Rupies kostet ein kleines Bier in den poshen Bars von Colaba.
PRAKTISCHE INFOS
Literatur
Diesmal stellen wir keinen Reiseführer vor, dafür haben wir einen schönen Romantipp für Euch:
Rohinton Mistry: Das Gleichgewicht der Welt. Fischer Taschenbuch: Frankfurt/Main 2016. Der Roman spielt im Bombay der 70er Jahre. Ein buntes Kaleidoskop an Geschichte und Geschichten und fast ein Muss für Traveller mit Ziel Mumbai.
Einreise
Deutsche, österreichische und schweizer Staatsbürger benötigen ein Visum. Wer nicht länger als 30 Tage bleiben will, kann dieses online bis vier Tage (laut Webseite) vor Abflug beantragen, Kostenpunkt 50 US$. Ein Touristenvisum, das bis zu einem Jahr gültig ist, kostet 95 € zuzüglich Gebühren, Infos auf www.indianembassy.de, www.indianembassy.at und www.indembassybern.ch.
Rumkommen
Wir waren mit Flugzeug (von Mumbai nach Thiruvananthapuram und zum Schluss von Goa nach Mumbai), Zug, Bus, Taxi und Boot (durch die Backwaters) unterwegs.
Alles problemlos, bis auf die Prozedur der Buchung von Zugtickets für längere Strecken. Diese Buchungen sind am Schalter genauso umständlich und nervig wie online auf → Indian Railways. Wer Nerven sparen will, kann in einem Reisebüro (teils satte Vermittlungsgebühren) buchen. Für unseren First-Class-AC-Sleeper von Kochi nach Gokarna zahlten wir zusammen zum Beispiel 62 Euro, neun Euro davon war die Vermittlungsgebühr.
Für das Geld reist man in einem Zweier- bis Viererabteil, bekommt Decken, Kissen, Laken, Wasser, Mangosaft und ein nach Essigessenz riechendes Erfrischungstuch. Wichtig: Tickets für längere Zugstrecken, wie die populäre Route von Bombay nach Goa, sollten mehrere Wochen im Voraus gebucht werden, ansonsten hat man kaum Chancen, noch an ein Ticket zu gelangen. Tickets für Kurzstrecken kauft man kurz vor der Abfahrt am Schalter.
SÜDINDIEN – PLUS UND MINUS
Plus
Das Essen! Muss man dazu eigentlich noch viel sagen? Wunderbar aromatische Currys, die gar nicht mal so scharf sind wie man immer denken mag. Knusprige gefüllte Teigtaschen. Thalis, eine vegetarische Platte voller Köstlichkeiten. Grillfisch. Kleinere Reinfälle sind wie überall auf der Welt normal. Problematisch wird’s nur für alle, die keinen Koriander mögen, selbst im Masala Omelette zum Frühstück kann sich ein Berg davon verstecken. Magenprobleme? Niente, wir hatten in vier Wochen nicht ein einziges Mal Probleme. Andere Indienreisende erzählen allerdings anderes.
Die Menschen! In der Regel freundlich und zuvorkommend, am lebensfrohsten in → Goa, etwas nervig zuweilen auf den Märkten in Bombay.
Gute Infrastruktur! Die touristische Infrastruktur in Südindien ist bestens. Überall kommt man problemlos hin, fast überall gibt es Hotels aller Preisklassen. Für die populären Strände in → Goa bucht man in der Saison allerdings besser im Voraus.
Die Preise! Indien ist nach wie vor ein günstiges Reiseland. Für ein Doppelzimmer mit Bad zahlten wir zwischen 10 Euro (sehr einfache Ausstattung) und 45 Euro (Boutique-Hotel-Stil). Essen und Transport fielen kaum ins Gewicht, das Gleiche gilt für Eintrittspreise oder Aktivitäten. Relativ teuer ist allerdings der Alkohol. Eine große Flasche Bier kostet in Kerala gut vier Euro, in Goa etwa 2,50 Euro.
Minus
Die Hygiene! Haare im Burger, Haare im Lemon Soda. An Tellern klebende Essensreste vom Vormann. Fingeressrestaurants ohne Seife am Waschbecken. Damit muss man leben können. Abgesehen vom Essen: In Indien gibt es mehr Handys als Toiletten (stand zumindest mal in der „Zeit“), weswegen sich viele Leute irgendwo hinhocken. Miserablere hygienische Zustände wie mancherorts in Indien haben wir selten erlebt, zumindest nicht so geballt. Unsere Unterkünfte aber waren stets sauber.
Die Sprache! Kein wirkliches Minus. Doch wir hatten uns die Verständigung einfacher vorgestellt. Die Amtssprache Englisch wird nur von einer privilegierten Schicht gut gesprochen, viele können gar kein Englisch oder haben eine schwer verständliche Aussprache. Das wussten wir nicht. Macht aber nichts!
Mehr Indien bei uns im Blog zum Weiterlesen
Wer von Euch war schon in Indien und kann uns von seinen Erfahrungen berichten? Das könnt Ihr gerne in den Kommentaren machen. Ansonsten freuen wir uns wie immer über Eure Pins, wenn Euch der Artikel etwas gebracht hat.