Die Pariser Straßen haben sich sanft durch Zeiten und Epochen tragen lassen. Sind praktisch heil in unserer Zeit angekommen. Ganz anders meine Straße in Berlin. Sie besteht aus Brüchen. Brutalen Rissen. In ihr überlagern sich Epochen, von denen die eine die Erinnerung an die vorige fast vollständig auslöscht.
Das Zitat stammt aus dem überaus lesenswerten Buch Ruhige Straße in schöner Wohnlage der Journalistin und Schriftstellerin Pascale Hugues. Hugues erzählt darin die Geschichte einer Straße und ihrer Anwohner in Schöneberg.
Pascale Hugues ist Französin und lebt seit den 1990er-Jahren in Berlin. Wir selbst haben, bevor wir nach Berlin gezogen sind, in Bamberg und Prag gelebt.
Bamberg und Prag. Das sind barocke Sahnestücke. Mit ihren Besuchern flirtende Schönheiten. Und dann Berlin. Was für ein Gegensatz! Zuckertortige Fassaden mit Patina? Wenige. Grazie und Grandezza? Kaum, wenn man das eine oder andere Villenviertel außer Acht lässt.
In Berlin sind die meisten historischen Gebäude entkleidet, ihres Stucks beraubt. Nackt und nüchtern. Die vorherrschenden Farben: Kochschinkenrosa, Erbspüreegrün, Kondensmilchbeige und Mischbrotgrau. Nur hier und dort blickt man auf eine Fassade, die die Eleganz vergangener Zeiten bewahrt hat. Das ist nicht allein dem Krieg geschuldet.
Wie der Stuck zum No-Go wurde
Mit der Entstuckung, also der Beseitigung der Stuckdekoration von Wohnhäusern, begann man bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert setzte eine ablehnende Haltung gegenüber zu viel Baudekor ein. Einer der bekanntesten Kritiker wurde der Architekt Adolf Loos. Er verabscheute nichtssagende Ornamente und den unnötigen Aufputz des Historismus’.
„Ornament ist vergeudete Arbeitskraft“,
notierte Loos im Aufsatz Ornament und Verbrechen (1908). Ornament bedeute „vergeudetes Material“ und „vergeudetes Kapital“.
Auch Architekten wie Peter Behrens, Bruno und Max Taut oder Erich Mendelsohn lehnten die Kitschfassaden der Gründerzeit ab – Fassaden mit Zierschmuck aus billigen, industriell gefertigten Gipselementen. Fassaden, bei denen die Formensprachen der Renaissance, des Barock und des Klassizismus’ wild vermischt wurden. Behrens, Taut & Co strebten eine neue Ästhetik an.
Als erstes „entstucktes“ Gebäude Berlins gilt übrigens ein Industriebau. Es war die Fabrik für Bahnmaterialien der AEG in der Voltastraße (Mitte). Peter Behrens ließ dessen Klinkerdekor 1911 entfernen.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Entstuckung auch zu einer ideologischen Abrechnung mit der wilhelminischen Zeit. Denn der Stuck der Gründerzeit stand für das Kaiserreich, für die Verschleierung erbärmlicher Zustände hinter schönem Schein. Für schmutzige, beengende Wohnungen hinter schmucken Fassaden. Wie merkte schon Miljö-Kenner Heinrich Zille an:
„Man kann mit einer Wohnung einen Menschen erschlagen.“
Bauten von Loos, Behrens, Taut und Mendelsohn gehören zu den Ikonen der Weltarchitektur. Ihre klaren Linien begeistern. Ihre Fassaden brauchen keinen Stuck. Aber ein Gebäude, das mit einer Stuckfassade geplant wurde, bekommt doch keinen modernen Anschein, indem man es seiner Stuckfassade beraubt. Oder? Eine solche Fassade hat eher etwas von einem missratenen Facelifting, wirkt freudlos und fade.
Weg mit den Zuckerbäckerbauten!
Ihren Höhepunkt erreichte die Entstuckung Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg. In West-Berlin ging sie vor allem unter Bausenator Rolf Schwedler (1955–1972) vonstatten. Es heißt, dass in seiner Zeit mehr Bauten der Abrissbirne zum Opfer fielen als durch Bomben im Zweiten Weltkrieg. Mit dem Namen Rolf Schwedler sind Kahlschlagsanierungen ganzer Viertel verbunden.
Die Entdekorierung der Fassaden war nun en vogue. Dem einen oder anderen Hauseigentümer kam die Purifizierung der Fassade auch gelegen. So konnte man Kosten bei der Renovierung sparen. Bis in die 1970er-Jahre hielt die Entstuckung der Gebäude in West-Berlin an.
In Ost-Berlin hingegen machte man sich weniger die Mühe, die alten Bauten zu renovieren und den Putz abzuklopfen. Dort forcierte man eher deren Abriss. Ganze historische Viertel verschwanden. Heute stehen dort Plattenbauten. Man denke nur an die standardisierte Wohnhochhäuser (Typ WHH GT 18) auf der Fischerinsel in Mitte.
Anderseits ließ die DDR-Führung die Husemannstraße in Prenzlauer Berg zur 750-Jahr-Feier Berlins originalgetreu restaurieren. Oder die Altstadt Berlins, das Nikolaiviertel, wiederaufbauen. Eine Altstadt als albern-verklärte Rekonstruktion, die so nie ausgesehen hat.
Und heute?
Berlin fährt noch immer auf entkleidete Fassaden ab. Der Versuch, die Eleganz vergangener Zeiten wiederherzustellen, wird nur selten unternommen. Steht gar nicht zur Diskussion. Wird gar nicht bedacht. Ein bisschen Schminke hier, ein bisschen dort. Mehr nicht. Ist vielleicht auch gar nicht gewollt. Von keiner Seite. Von den Immobilienbesitzern nicht wegen der Kosten. Und von den Mietern vermutlich auch nicht aus Angst vor steigenden Mieten. Schließlich könnte die Rückbesinnung auf alte Pracht mit einer Aufwertung der Häuser und ganzer Viertel einhergehen.
Irgendwie schade. Wenn ich zum Chamissoplatz spaziere, einem denkmalgeschützten Bilderbuchplatz mit Kopfsteinpflaster und antiken Laternen in Kreuzberg, kommt manchmal Wehmut auf. Dann denke ich mir: Hey Berlin, du kannst hie und da so richtig hübsch sein. Nicht nur „so hässlich“, „so dreckig und grau“ wie Peter Fox singt.
LITERATURTIPPS
→ Hans Georg Hiller von Gaertringen: Schnörkellos. Die Umgestaltung von Bauten des Historismus im Berlin des 20. Jahrhunderts. Berlin: Gebr. Mann Verlag 2012.
Über die eine oder andere architektonische Besonderheit in Berlin schreiben wir auch in unseren Reiseführern → „Berlin“ und → „Berlin Abenteuer“, die beide im Michael Müller Verlag erschienen sind.
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In Berlin trifft man auf viele „heruntergekommene“ Fassaden. Diese prägen das Stadtbild. Kann man diese optisch nicht so belassen, jedenfalls teilweise, und höchstens absichern, dass es nicht zu einem noch größeren Verfall kommt?